© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

Mit dem Timbre des Meisters
Starbariton Dietrich Fischer-Dieskau widmet sich in seiner Brahms-Biographie besonders dem Vokalwerk
Wiebke Dethlefs

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Da die Musikwelt im Jahr 2008 den 175. Geburtstag von Johannes Brahms feiern wird, hat sich der Doyen der Liedinterpretation und vielleicht einzige deutsche Sänger der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von wirklichem Weltrang zu einer ungemein inspirierten Biographie des Komponisten hinreißen lassen, die allerdings etwas aus dem Rahmen gewöhnlicher Lebensbilder fällt. Denn neben der ansonsten hinreichend bekannten Vita, zu der Dietrich Fischer-Dieskau nach eigenen Worten "nichts Neues beitragen kann und will", widmet sich der Autor ungewöhnlich breit dem Vokalschaffen des Meisters, dabei anknüpfend an seine vor über zwanzig Jahren erschienenen Monographien über Robert Schumanns Vokalwerk, über die Lieder Franz Schuberts und über Hugo Wolf. Damit konnte der Verfasser eine Tetralogie über die größten Meister des deutschen Kunstlieds vollenden.

Brahms' Liedschaffen beziehungsweise ein großer Teil seiner anderen Vokalkompositionen hat allerdings im heutigen Repertoire nicht ganz den Stellenwert seiner Instrumentalkompositionen erklimmen können. Und gemessen an der Lyrik Schuberts und Schumanns besitzen Brahms' Lieder nicht deren große Popularität, vielleicht ausgenommen das "Guten Abend, gut Nacht". Daß Brahms aber mehr als 200 Lieder und Chorwerke hinterlassen hat, zeigt, welch große Bedeutung er in der Vokalkomposition sah. Das Buch füllt nun eine große Lücke, da es bisher keinerlei Literatur für ein breiteres Publikum über das Vokalwerk des Komponisten gab.

Fischer-Dieskau erläutert die Werke und deren Sinngehalt in klar verständlicher Form, er gibt Hinweise auf die vielen von Brahms bevorzugten, jedoch heute meist vergessenen Textdichter wie beispielsweise Georg Friedrich Daumer oder Karl Candidus. Der Autor verbindet den historischen, textlichen und musikalischen Hintergrund mit dem Leben des Johannes Brahms aus einem ungewöhnlichen Ansatz heraus, denn durch die vieljährige Beschäftigung mit Brahms' Liedern als Interpret gewann er (wie er selbst im Vorwort ausführt) den Eindruck, "daß man durch die Gesangswerke ein Lebensbild des Komponisten erhält, das in vieler Hinsicht mehr aussagt als ein bloßer Abriß seines äußeren Lebenslaufs". Dieser alternierende Bezug von Leben und Liedern macht das Ungewöhnliche, das Reizvolle des Buchs aus. Er gelingt um so überzeugender, da Brahms' kompositorisches Schaffen von der Zeit der ersten Begegnung mit Schumann am Beginn seiner Karriere 1853 bis zum vorletzten Lebensjahr 1896 mit den "Vier Ernsten Gesängen" von Vokalmusik in gewaltiger Breite an Gattungen und Ausdrucksformen durchgängig begleitet ist.

Wünschenwert wäre gewesen, daß Fischer-Dieskau wie im Falle seines Schumann-Buches sämtliche Texte der Lieder und Chöre beigefügt hätte. Unerklärlich bleibt bei der ansonsten großen Akribie des Autors, warum er Brahms' Männerchorlieder op. 41 bis auf eine kurze Erwähnung ihrer Existenz aus seinen Betrachtungen vollständig ausklammert.

Das wirkt um so störender, da dieses Opus das einzige ist, das Brahms ausschließlich für Männerstimmen schuf. Gewiß zählen diese fünf Chorlieder nicht zum Allerbesten des Komponisten, teilweise sind die Texte romantische Verklärungen des Soldatenlebens und damit vielleicht für heutiges Empfinden fremdartig. Trotzdem wäre es einem Fischer-Dieskau sicherlich gelungen, hier einen überzeugenden Grund zu finden, warum Brahms sich einmal, genaugenommen nur einmal, solcher Vorlagen bedient und angenommen hat.

Unübersehbar ist dennoch die große Liebe, die Fischer-Dieskau Brahms und seinem Vokalwerk entgegenbringt. Eine beiliegende CD mit Liedern, von Fischer-Dieskau gesungen, ergänzt das trotz dieser kleinen Mängel vortreffliche Werk auf das Schönste, wodurch gleichsam noch "mehr Lust auf Brahms" gemacht wird. Und insbesondere eben auf den weniger bekannten Brahms.

Das Buch wird sicherlich nicht nur die "Brahminen", sondern auch jene begeistern können, die dem Komponisten reserviert (weil er unter anderem zu "spröd" sei) gegenüberstehen. Denn Dietrich Fischer-Dieskau ist - wie ihm einmal die Süddeutsche Zeitung bestätigte - eine Dreifachbegabung, die wissenschaftlich verfährt, weitgehend literarisch formuliert und vollends künstlerisch empfindet.

Dietrich Fischer-Dieskau: Johannes Brahms - Leben und Lieder. Propyläen Verlag, Berlin 2006, 368 Seiten, gebunden, 24,90 Euro

Foto: Abendstimmung am Brahms-Denkmal, Karlsplatz Wien: Eher unbeachtet - Brahms ließ auch singen


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