© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Zweierlei Wahrnehmung
Potsdam: Der "Fall Ermyas M." und der Mord an einem jungen Deutschen kommen vor Gericht / Warnung vor Stigmatisierung
Christian Rudolf

Ermyas M. lebt, David F. ist tot. Der eine erlitt in Folge eines wuchtigen Faustschlags ins Gesicht lebensbedrohliche Kopfverletzungen, den anderen traf eine zehn Zentimeter lange Messerklinge ins Herz. Der eine rang wochenlang um sein Leben, der andere starb auf der Stelle. Ermyas M. stammt aus Äthiopien, David F. war Deutscher. Die Verletzung wurde Ermyas von einem Deutschen aus Wilhelmshorst zugefügt, den tödlichen Stich auf David führte ein junger Mann aus Kabul. Beide Verbrechen ereigneten sich in Potsdam, doch ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit hätte unterschiedlicher nicht sein können. Dieser Tage werden beide Fälle vor Gericht verhandelt.

Zur Erinnerung: Der Fall des in der Osternacht niedergeschlagenen Wasserbau-Ingenieurs löste in der Havelstadt Entsetzen aus. Die Polizei machte eine Handy-Aufzeichnung zugänglich, die einen Ausschnitt aus der verbalen Auseinandersetzung unmittelbar vor den Tätlichkeiten enthielt.

Bereits zwei Tage nach dem Vorfall war der Tatort mit Blumen und Kerzen überhäuft. Allenthalben las und hörte man vom "rassistischen Mordversuch", vom "fremdenfeindlichen Überfall", von grassierendem Rechtsextremismus, von der Spitze des Eisbergs. Noch in derselben Woche erlebte die Stadt zwei Kundgebungen für das im künstlichen Koma liegende Opfer, auf der Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung, Kirchenvertreter und Gewerkschaftler die Tat verurteilten. Eine Einzelhandelskette übergab den Angehörigen des Familienvaters eine Soforthilfe von 5.000 Euro, und auf einem Solidaritätskonto gingen mehrere zehntausend Euro ein. Aus ungezählten Fenstern hingen bunte Fähnchen mit der Aufschrift "Potsdam bekennt Farbe". Auch wenn die Anteilnahme aus der Bevölkerung gewiß echt war, rieb man sich als Beobachter doch verwundert die Augen - denn noch lag der genaue Ablauf der Auseinandersetzung im dunkeln.

Nur vier Tage brauchte die Polizei, um zwei Tatverdächtige dingfest zu machen: den 29jährigen Björn L. und den zwei Jahre älteren Thomas M. Im Laufe der Ermittlungen ergab sich, daß die Tat offenbar nicht geplant gewesen, vielmehr ein Streit unter Betrunkenen eskaliert war und das spätere Opfer die Tätlichkeiten eröffnet haben soll. Zeugen beschrieben Ermyas M. in der fraglichen Nacht als streitlustig, zudem rekonstruierten Gerichtsmediziner bei ihm einen zur Tatzeit hohen Blutalkoholspiegel.

Obwohl Zeugenaussagen, die das behauptete ausländerfeindliche Tatmotiv ins Wanken brachten, schon zwei Tage nach der Tat Bestandteil der Akten waren, zog die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen an sich. Der Vorwurf lautete auf Mordversuch, die Tatverdächtigen wurden mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe überstellt. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), der den besten Überblick über Erkenntnisse der ihm unterstellten Polizei gehabt haben dürfte, riet zur Besonnenheit und warnte vor voreiligen Schlüssen - und handelte sich den Vorwurf ein, er bagatellisiere "rassistische Gewalt". Der Fall "Potsdam" schien den "Kampf gegen Rechts" zu rechtfertigen, der daraufhin mit Steuermillionen "verstetigt" wurde.

Am 26. Mai mußte Generalbundesanwalt Kay Nehm allerdings das Verfahren wieder an Potsdam zurückgeben - mangels Zuständigkeit. Die als Tathintergrund unterstellte Fremdenfeindlichkeit ließ sich nicht belegen. Im September wurde der Hauptbeschuldigte Björn L. gegen Meldeauflagen aus der Haft entlassen und die Anklage auf gefährliche Körperverletzung und Beleidigung abgeschwächt. Dem Mittäter Thomas M. wird nun unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Die Gerichtsverhandlung gegen die Angeklagten wird am 3. Januar 2007 vor dem Landgericht Potsdam eröffnet. Ermyas M. kündigte an, er wolle am ersten Prozeßtag gegen die beiden mutmaßlichen Täter als Zeuge aussagen.

Nur die Lokalpresse berichtete über David F.

Der andere Potsdamer "Fall" dieses Jahres, der gewaltsame Tod des 20jährigen David F., kam über Berichte in der Lokalpresse nicht hinaus. In den frühen Morgenstunden des 17. Juni war David F. in eine Auseinandersetzung zwischen deutschen und vorwiegend türkischen Jugendlichen in der Innenstadt verwickelt. Der Streit der betrunkenen Diskobesucher (auch David war angetrunken) eskalierte, als der 18jährige Afghane Ajmal K. aus noch ungeklärter Motivation ein Messer zog und es seinem Opfer, das unbewaffnet war, in die Brust rammte. Knapp neun Wochen waren seit dem "Fall Ermyas M." vergangen, doch der Aufschrei der Öffentlichkeit blieb aus. Keine Pressekonferenz wurde einberufen, kein Mordvorwurf erging gegen den Täter. Die Frage, ob an der Havel möglicherweise gewaltbereite ausländische Jugendbanden ihr Unwesen trieben, wurde nicht gestellt; im Gegenteil, bald schon waren in der Lokalpresse Warnungen vor "Vorurteilen gegen Ausländer" zu lesen. Die Berichterstattung der Potsdamer Neuesten Nachrichten erzeugte den Eindruck, David F. hätte sich in einem "rechten" Umfeld bewegt.

Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs besuchte den Tatort, an dem Angehörige und Freunde Davids Blumen und Zettel abgelegt hatten. Die Trauerkundgebung fand allerdings nur wenig Resonanz. Um die Beerdigungskosten tragen zu helfen, wurde ein Spendenkonto eingerichtet. Keine der bekannten Initiativen und Aktionsbündnisse zeigte ihr Gesicht. "Es war ja nur ein Deutscher", las man bald auf einem Zettel am Tatort zwischen Kerzen und verwelkten Blumen.

Die Gerichtsverhandlung vor der zweiten Strafkammer gegen Ajmal K. hat in der vergangenen Woche begonnen, an zwei weiteren Tagen soll sie fortgesetzt werden. Die Anklage des Staatsanwalts lautet auf Totschlag. Bei der Eröffnungsverhandlung beantragte K.s Verteidiger, die Öffentlichkeit auszuschließen wegen dessen jugendlichen Alters, der Gefahr seiner Stigmatisierung und angeblicher "rechtsextremer Benutzung" des Falles. Der Antrag wurde vom Gericht abgelehnt. Die Richterin hielt einen Brief des Angeklagten vor, den er aus der Haft geschrieben hatte. Darin bat er Davids Eltern um Verzeihung, gleichzeitig standen dort Rechtfertigungen wie: "Ich kann auch nichts dafür, daß es so gekommen ist."


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