© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/06 01/07 22./29. Dezember 2006

Wanderer zwischen beiden deutschen Welten
Der Rückblick des Völkerrechtlers Wolfgang Seiffert eröffnet neue, hintergründige Perspektiven zur deutschen Frage
Günther Deschner

Er ist Experte für Internationales Wirtschafts- und Völkerrecht, lehrte als Professor in Deutschland und Rußland. Er hat ein Dutzend politischer Bücher und renommierter juristischer Abhandlungen geschrieben. Er hat von Walter Ulbricht über Erich Honecker, Willy Brandt und Helmut Kohl bis Wladimir Putin handelnde Politiker in Ost und West kennengelernt und einige auch beraten. Über Putin hat er eine Biographie geschrieben, zu der man angemerkt hat, sie sei "russophil". In der Zeit der deutschen Teilung und im Vorfeld der Wiedervereinigung war er ein unermüdlicher Verfechter der Einheit. Bis 1994 war er Leiter des Instituts für osteuropäisches Recht an der Universität Kiel, und bis 2002 arbeitete er am Zentrum für deutsches Recht der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Im Juni dieses Jahres wurde er achtzig (JF 25/06).

Wie kaum ein Zweiter kannte Wolfgang Seiffert die politischen Befindlichkeiten in Ost und West, die Machtkalküle in Bonn, Moskau und Ost-Berlin. Als zwangsarbeitender Kriegsgefangener hatte er sich Russisch angeeignet, als "Kursant" eines Antifa-Lehrgangs spätere DDR-Größen kennengelernt. Als Redakteur einer FDJ-Zeitung in Düsseldorf war er Anfang der fünfziger Jahre vom Bundesgerichtshof wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Er flüchtete in die DDR, studierte Jura an der Humboldt-Universität, wurde Professor für Internationales Wirtschaftsrecht in Potsdam, hatte im Rahmen des Comecon-Rats der Warschauer-Pakt-Staaten ein Büro in Moskau. Nach einem Krach mit Honecker in den siebziger Jahren kam er nach Westdeutschland zurück. Wolfgang Seiffert - der Wanderer zwischen den deutschen Welten, zwischen Deutschland und Rußland - hat in achtzig Lebensjahren einen selten weiten Erfahrungshorizont.

Das Erlebte hat er jetzt zu Papier gebracht. Es kommt selten vor, daß Titel und Untertitel eines Buches dessen Intention und Inhalt so exakt avisieren, wie es in diesem Lebensbericht der Fall ist. Bei all den unterschiedlichen Erfahrungen, bei allen Volten, die es in diesem "Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik" gegeben hat, ist eine Konstante geblieben, die dem Buch seinen Wert als zeitgeschichtliche Chronik gibt, und der sein unaufgeregter, nüchterner und sachlicher Berichtston geschuldet ist: Seifferts Text dreht sich in jeder Hinsicht um den Begriff der Selbstbestimmung. Politisch um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, deren Leben und Überleben in einem ungeteilten Staat. Weil Seiffert sich den politischen Ideen seines Jahrhunderts und ihren politischen Ausdrucksformen nie kritiklos verschrieben hat, sondern sich mit reservierter Distanz in ihnen bewegte, blieb ihm auch das Quantum persönlicher Selbstbestimmung erhalten, das unbestechliche Urteile ermöglicht.

Sie sind ein Charakteristikum dieses Buches. Das Ringen um die Überwindung der deutschen Teilung ist sein zentrales Thema. Die Kapitel, die sich damit befassen, sind auch aus dem zeitlichen Abstand noch aufregend zu lesen. Seiffert macht kein Hehl aus seinem intellektuellen Mitleid mit den Politikern der beiden Staaten in Deutschland der siebziger und achtziger Jahre, einer subtilen Form der Verachtung. "In den Bundesregierungen Kohl und Schröder gab es niemanden, der ein Anhänger der Wiedervereinigung war. Man könnte hier seitenlang die Positionen der Politiker damals zitieren; es genügt, auf 'Deutsche Irrtümer' von Jens Hacker (Ullstein Verlag, Berlin, 1992) zu verweisen, in dem sich alle diese Positionen von Kohl und Schröder, von Lambsdorff bis Lafontaine wiederfinden und belegen, daß diese Politiker wenn nicht überhaupt Gegner der deutschen Wiedervereinigung, so doch nicht ihre Vorkämpfer waren."

Für Seiffert hingegen ist - jenseits des politischen Wollens - völlig klar, daß man die Teilung weder brauchte noch aufrechterhalten konnte. Sorgfältig legt er dar, daß die Entwicklung, die zu Mauerfall und Einheit führte, eine internationale war, die nicht einmal in Deutschland begann, sondern ihren Anfang in Ungarn und Polen und der UdSSR nahm, wo sich Umwälzungsprozesse der Wirtschafts- und politischen Systeme zu vollziehen begannen, auf die deutsche Politiker (der damaligen Bundesrepublik wie der DDR) keine oder jeweils keine adäquaten Antworten hatten. Beinahe kopfschüttelnd referiert Seiffert, wie hilf- und ideenlos selbst angesichts der Flüchtlingsströme aus der DDR über Ungarn und die Tschechoslowakei die bundesdeutschen Politiker an ihrer bisherigen "Deutschlandpolitik" der Stabilisierung der DDR und die SED-Führung an "Reiseerleichterungen für DDR-Bürger gegen finanzielle Zugeständnisse Bonns" festhielten.

Kritisch analysiert der Autor auch die damalige Politik der UdSSR. Selbst unter Gorbatschow hatte sie demnach "keinerlei Strategie zur Lösung der drängenden Probleme, nachdem er die Breschnew-Doktrin aufgekündigt hatte". Dabei hätten "die Realitäten" schon Mitte 1989 eindeutig dafür gesprochen, daß nur der Weg über den damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes, also der Beitritt der DDR, sprich die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands eine wirkliche Lösung bringen konnte. Seiffert: "Damals habe ich mit vielen Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien gesprochen. So unterschiedlich ihre Positionen auch waren, in einem stimmten sie überein: am Status quo der Teilung Deutschlands dürfe nicht gerüttelt werden."

Zum ersten Mal liest man in Seifferts Buch, daß es aber außerhalb der Bundestagsparteien Kräfte gab, die die neuen Chancen sehr wohl sahen, so etwa der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der damals erklärte: "Wenn ich Politiker wäre, würde ich jetzt die Wiedervereinigung machen". Ebenso eine Gruppe von Industriellen und Wissenschaftlern um den Unternehmer Peter Daublebsky, die sich mit Wissen Herrhausens und der Vermittlung Professor Daschitschews mit einem Memorandum an Gorbatschow wandten, in dem sie Grundsätze für eine Wiedervereinigung mit Zustimmung der UdSSR formulierten. Selbst weitergehende Ziele eines neuen deutsch-russischen Verhältnisses waren dort formuliert. Seiffert urteilt: "Wegen des Zögerns Gorbatschows und der ablehnenden Haltung der damaligen Bundesregierung blieb diese Initiative nur eine Episode." Seiffert wirft die Frage auf, ob der Mord an Herrhausen kurz darauf nicht doch auch in diesen Kontext gehört. Alles in allem ist Wolfgang Seiffert ein Bericht gelungen, der bei aller Nüchternheit eine spannende Lektüre ist. 

Wolfgang Seiffert: Selbstbestimmt. Ein Leben im Spannungsfeld von geteiltem Deutschland und russischer Politik. Ares Verlag, Graz 2006, gebunden, 216 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro


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