© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Das große Puzzeln
Stasi: In 16.000 Säcken lagern noch immer unzählige zerrissene Akten / Computerprogramme sollen jetzt beim Zusammensetzen helfen
Arnold Steiner

Schon immer versuchten Machthaber angesichts einer drohenden Niederlage, belastendes Material zu vernichten. So war es auch in den letzten Tagen der DDR. Dort wurden in solchen Mengen Akten des berüchtigten Ministeriums für Staatssicherheit geschreddert, daß die eigens dafür sogar in West-Berlin eingekauften Reißwölfe überhitzt den Geist aufgaben. Danach wurde mit bloßen Händen weiter zerrissen, was für die Verantwortlichen irgendwie unangenehm werden konnte.

Bei der Staatssicherheit ahnte 1989 niemand, daß 17 Jahre später die Schnipsel der ehemaligen Akten mit Hilfe modernster Computerprogramme wieder zusammengesetzt und ausgewertet werden könnten. 400 Jahre würde es dauern, bis die rund 16.000 Säcke voller Schnipsel per Hand rekonstruiert wären. Diese Zahl ergibt sich aus den Erfahrungen der vergangenen fünfzehn Jahre, in denen von Mitarbeitern der Birthler-Behörde gerade einmal der Inhalt von knapp dreihundert Säcken per Hand zusammengesetzt wurde.

Ein "elektronischer Puzzler", den das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK entwickelt hat, soll diese Arbeit nun in fünf bis sechs Jahren erledigen, verspricht Projektleiter Bertram Nickolay. Anhand von verschiedenen Parametern wie Farbe, Form, Schrift und Reißmuster ist die Maschine in der Lage, aus den eingescannten Schnipseln wieder eine vollständige Seite zu entwickeln.

Vor zehn Jahren wurde der Wissenschaftler durch einen Fernsehbericht darauf aufmerksam, daß die zerrissenen Stasi-Akten von Hand zusammengesetzt werden. Seither entwickelt er mit seinem Team, zunächst nebenbei und ohne Bezahlung, die Puzzlemaschine. Der anfänglichen Euphorie folgte schnell die Ernüchterung, als Nickolay erkennen mußte, wie zurückhaltend die politische Führung trotz der Bedeutung der Entwicklung reagierte, nachdem sie auf die Forschungsarbeit aufmerksam gemacht wurde.

Bundestag stellt sechs Millionen Euro bereit

Erst zehn Jahre nach Aufnahme der Arbeit sind nun vom Bundestag rund sechs Millionen Euro bereitgestellt worden, um das Schnipsel-Problem mit Hilfe von Computern zu lösen. Dieses Geld reicht aus, um in einem Pilotprojekt zunächst den Inhalt von 400 Säcken mit Aktenschnipseln zu rekonstruieren.

Das Fraunhofer-Institut beziffert die Summe, die nötig wäre, um alle 16.000 Säcke zu ordnen, auf etwa dreißig Millionen Euro und stützt seine Kalkulation auf einen reichen Erfahrungsschatz anderer Forschungsprojekte. Angesichts dieser Berechnung, die mehrfach präsentiert wurde, erscheint es dem Projektleiter unverständlich, daß insbesondere durch die Presse immer wieder eine Summe von 60 Millionen Euro und mehr lanciert wird. Unter anderem trugen diese falschen Zahlen dazu bei, daß eine Verwirklichung des Projekts hinausgezögert wurde, vermutet Nickolay, der mit dem bahnbrechenden Projekt schon vor mehr als drei Jahren eine Ausschreibung für sich entscheiden konnte.

Auch international muß sich das renommierte und in der Datenerfassung, -sicherung und -überprüfung weltweit führende Institut Fragen gefallen lassen, warum sich der Staat nur zögerlich für die Entwicklung begeistern läßt und jahrelang lieber die Schnipsel von Hand zusammenkleben ließ. Begründet wird dies seitens der Politik damit, daß es für eine juristische Verwertbarkeit nötig sei, die Seiten in den Originalzustand zurückzuversetzen, während der Computer nur Datenmaterial liefern könne. Dieses Argument ist jedoch wenig belastbar. Würde man bei der Auswertung der Daten strafrechtlich relevantes Material finden, wäre es ein Leichtes, die betreffenden Seiten manuell zusammenzufügen, sagt Nickolay.

Spektakuläre Enttarnungen

Daher liegt die Vermutung nahe, daß es den Politikern gerade darum geht, überhaupt keine belastenden Dokumente zu rekonstruieren. Schon in der Vergangenheit kam es immer wieder zu spektakulären Enttarnungen ehemaliger Stasi-Spitzel. Aber es geht um mehr als um das Aufdecken von inoffizieller Mitarbeit. Das Material ermöglicht einerseits Einblicke in das komplizierte System des Überwachungsstaates und kann helfen, konkrete Einzelschicksale aufzuklären. Angesichts der vielen Opfer des DDR-Regimes, deren Leben durch die Staatssicherheit stark beeinträchtigt oder sogar zerstört wurde, ist es dringend geboten, das Aktenmaterial möglichst schnell auszuwerten.

Durch die Entwicklung der neuen Computerprogramme ist die einmalige Möglichkeit eröffnet, die deutsch-deutsche Vergangenheit zeitnah und lückenlos aufzuarbeiten. Daher erscheint es völlig unverständlich, warum jahrelang an einer Methode festgehalten wurde, bei der das Zusammensetzen der Akten mehrere Jahrhunderte dauert. Das Fraunhofer-Projekt ist sehr innovativ und könnte sich weltweit zum Verkaufsschlager entwickeln. Auch andere Staaten sind daran interessiert, die Missetaten vergangener Regime aufzuklären. Anfragen kamen jüngst aus Chile, wo es darum geht, Akten der Pinochet-Diktatur auszuwerten. Mit gewissen Modifikationen wäre die Maschine vielseitig einsetzbar, sagte Projektleiter Nickolay. Die Chinesen wollen mit Hilfe der neuen Technik zerstörte Figuren ihrer Terrakotta-Armee zusammensetzen, aber auch Polizei, Versicherungen und Zoll könnte die Technik nützlich sein.

Da das Projekt mit der Finanzierung steht und fällt, wäre es dramatisch, wenn sich herausstellen würde, daß aus Angst vor unliebsamen Enthüllungen dringend gebrauchte Innovationen jahrelang durch die Politik ausgebremst wurden.

Fotos: Bislang setzten Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde die Schnipsel zerrissener Akten zeitraubend per Hand zusammen: Arbeit für mehrere hundert Jahre; Automatisch werden die Schriftstücke wieder zusammengesetzt: Weltweit einzigartiges Pilotprojekt


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