© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Lernziel Ahnungslosigkeit
Auslassung und Umdeutung: Ein deutsch-französisches Geschichtsbuch trägt zur Legendenbildung bei
Karlheinz Weissmann

Die Pflege der deutsch-französischen Beziehungen gilt als Grundpfeiler (west)deutscher Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dementsprechend hat man in Bonn und später in Berlin viel Wert gelegt auf direkte Begegnung der Mächtigen und diplomatische Routine, aber auch auf den Ausbau eines ganzen Netzes von kulturellen Initiativen, die dazu dienen, Vorbehalte und "Feindbilder" abzubauen. Ein erfolgreiches Projekt insofern, als aus Frankreich selten von antideutschen Affekten berichtet wird, wie sie in Großbritannien häufig vorkommen. In Deutschland wiederum ist das Stereotyp vom "Franzos' mit de rote' Hos'" schon so lange vergessen, daß es mühselig wird, einem Jüngeren zu erklären, welche Vorbehalte seine Ahnen gegen den "Erbfeind" hatten.

Angesichts des Standes der Entwicklung fragt man sich, warum es noch nötig sein kann, ein gemeinsames deutsch-französisches Geschichtsbuch zu erarbeiten. Die Antwort, die man dann erhält, lautet: Vertiefung der Kooperation und Schaffung eines erweiterten Geschichtsbildes. Der im Sommer 2006 vom Klett-Verlag herausgebrachte Band "Histoire/Geschichte" bildet den Abschluß eines auf insgesamt drei Bände angelegten Unterrichtswerks, das für die Oberstufen der deutschen und der französischen Schulen gedacht ist. Behandelt wird die Nachkriegszeit. Wie man im Vorwort ausdrücklich betont, geht es nicht um ein Buch zur deutsch-französischen Geschichte, aber mehr als ein Drittel des Inhalts beschäftigt sich doch mit einem der beiden Länder oder deren Beziehung zueinander.

Licht und Schatten sind eindeutig verteilt

Auf das in diesem Zusammenhang Gebotene muß sich die besondere Aufmerksamkeit richten, da es ja das erklärte Ziel der Verfasserteams war, die beschränkte Perspektive der Nationalgeschichte zu weiten. Bei Prüfung der einzelnen Kapitel ergibt sich allerdings ein Bild, das kaum als differenziert bezeichnet werden kann. Licht und Schatten sind eindeutig verteilt: Licht für die Franzosen und Schatten für die Deutschen. Ein Effekt, der nur mit Hilfe zweier Kunstgriffe zu erreichen war: Auslassung und Umdeutung:

So wird in bezug auf das Kriegsende in Frankreich darauf hingewiesen, daß das Land wesentlich stärker zerstört gewesen sei als nach dem Ersten Weltkrieg; nicht erwähnt wird, daß ein großer Teil der Schäden auf die Kriegshandlungen der Alliierten (vor allem deren Bombardements) zurückzuführen war; des weiteren heißt es, die Säuberungen in Frankreich seien alles in allem "recht mild" ausgefallen, wobei schlankweg die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen 1944 und 1946 unterschlagen und die Zahl der Hingerichteten auf die regulär verurteilten beschränkt wurde (deren Zahl immerhin auch 6.400 Tote betrug);

Ein wesentlicher Grund für diese Darstellung ist, daß man die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) schonen möchte. Die Bedeutung der Kommunisten im Nachkriegs-Frankreich lasse sich, heißt es an einer Stelle, aus deren "Rolle in der Résistance erklären"; nirgends ein Wort über den Landes- und Hochverrat französischer Kommunisten am Beginn des Krieges, ihre Zusammenarbeit mit den deutschen Stellen in der Übergangsphase bis zum Beginn des Rußlandfeldzuges, ihre Brutalität im Untergrund, nicht nur beim Kampf gegen die Besatzer, sondern auch gegen andere Gruppen des Widerstands.

Dieser Art von Wohlwollen gegenüber der äußersten Linken korrespondiert die Reserve gegenüber den Bürgerlichen, der "Rechten", wie es hier heißt. So analysiert man zwar deren Versäumnisse bei der Heilung des "Vichy-Syndroms", aber die Rolle Mitterrands in dem Zusammenhang wird darauf beschränkt, daß er als erster Staatspräsident an den Gedenkfeiern für die Opfer der großen Razzia von Vel d' Hiv teilgenommen hat. Kein Wort von seiner eigenen, bis zum Schluß sorgsam verschwiegenen Verstrickung in die Kollaboration.

Zu den aufschlußreichen Fehlstellen gehören außerdem: das Schweigen über die Praxis und die Ziele der französischen Besatzungspolitik in Westdeutschland, die Behandlung der Wehrmachtssoldaten in französischer Kriegsgefangenschaft und die Absichten Frankreichs in bezug auf die okkupierten Gebiete. Es gibt auch keinen Hinweis auf die Kooperation mit der Sowjetunion bei dem Versuch, die Kontrolle über das Ruhrgebiet zu erlangen, und groteskerweise keine Behandlung der Saarfrage, die immerhin bis Mitte der fünfziger Jahre das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Frankreich massiv belastete.

Dieser Linie folgend wird das Scheitern der EVG als Folge der - verständlichen - Angst Frankreichs vor einem neuen deutschen Militarismus präsentiert, und im Zusammenhang mit dem Elysée-Vertrag fehlen Hinweise auf die machtpolitischen Überlegungen de Gaulles nach Beginn der Großen Détente zwischen den Supermächten.

Angesichts dessen wird kaum überraschen, daß die Versuche Mitterrands, die Wiedervereinigung zu verhindern, aus seiner Sorge vor einer deutschen Hegemonie abgeleitet werden, die sofort schwand, als Kohl bereit war, die Oder-Neiße-Linie zu akzeptieren.

Man könnte in der Aufzählung solcher und ähnlicher Defizite noch einige Zeit fortfahren, sich darüber aufhalten, daß das Buch zum Algerienkrieg salopp bemerkt, nach der Unabhängigkeitserklärung hätten Algerienfranzosen und Harkis das Land "panikartig" verlassen, ohne den Terror der "Befreiungsfront" mit einem Wort zu erwähnen; daß in der Nachkriegszeit "Feindbilder entstehen" konnten, die zur Verschärfung des Ost-West-Konflikts beitrugen; daß die Beschreibung der Lage im sowjetischen Block bestenfalls als verharmlosend bezeichnet werden kann; daß das "Leben in der DDR" auf einer Seite abgehandelt wird und daß der "Historikerstreit" angeblich dadurch ausgelöst wurde; daß Jürgen Habermas "die Versuche zur patriotischen Rehabilitierung der deutschen Geschichte" angeprangert habe.

Aber eine solche Liste würde doch nur den Gesamteindruck undeutlich machen, und der ist vor allem gekennzeichnet durch das Bemühen, ein bestimmtes Bild der deutsch-französischen Geschichte festzuschreiben, das nicht nur den Ist-Stand als notwendiges Ergebnis historischer Entwicklung kennzeichnet, sondern auch wesentliche Züge einer "Goldenen Legende" hier, einer "Schwarzen Legende" dort aufweist.

Nun wäre es unrealistisch, von Schulbüchern zu erwarten, daß sie unter Absehung politischer Bedingungen die Vergangenheit darstellen, wie sie gewesen ist. Selbstverständlich wollen die Mächtigen immer, daß die nachwachsende Generation mit einer bestimmten Vorstellung von der früheren Zeit groß gezogen wird. Aber in einem freien Staat gibt es zwischen den Vorgaben der Kultusbehörden, der Gestaltungsmöglichkeit der Verlage und der Entscheidung der Schulen für Anschaffung oder Nichtanschaffung eines Lehrwerks gewisse Filter. Die waren in diesem Fall nicht vorhanden oder unwirksam. Faktisch handelt es sich um ein offiziöses Werk, das unter "Koordination" hoher und höchster politischer Stellen geschaffen wurde.

Die Filter eines freien Staats versagten in diesem Fall

Inwieweit die wissenschaftlichen Berater tatsächlich Einfluß auf den Inhalt genommen haben, steht natürlich dahin. Aber die Nennung eines Namens in diesem Zusammenhang kann kaum Zufall sein: Es handelt sich um Rudolf von Thadden, Emeritus für Geschichte an der Universität Göttingen, prominenter Sozialdemokrat und als solcher von der Regierung Schröder zum "Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit bei der Bundesregierung" ernannt.

Thaddens Engagement auf diesem Feld entspricht spiegelbildlich seinem Eintreten für die "Neue Ostpolitik" in den siebziger Jahren und deren Abdeckung im linksprotestantischen Milieu. Ein Ergebnis des Einsatzes war auch seine Mitwirkung an den "Deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen", die 1976 ihren Abschluß gefunden hatten und danach Stück für Stück in Schulbuchtexten umgesetzt wurden.

Thadden ist insofern die Personifikation einer Art von Geschichtspolitik, bei der die deutsche Seite grundsätzlich auf alle Argumente zu verzichten hatte, die ihre Handlungen in der Vergangenheit irgendwie verständlich oder sogar gerechtfertigt erscheinen ließ.

Dagegen gab es im Hinblick auf die Deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen noch eine deutliche Opposition. Erfolg hatte sie allerdings nur in wenigen Fällen, und mittlerweile ist die propolnische Darstellung kanonisiert. In bezug auf die Präsentation des deutsch-französischen Geschichtswerks hat es nicht einmal mehr den Versuch gegeben, Korrekturen durchzusetzen, und als der Band "Histoire/Geschichte" im Sommer der Presse vorgestellt wurde, war das Lob einstimmig.

Das bessere Wissen wird systematisch ausgemerzt

Das ist auch die Konsequenz eines Erziehungsprozesses, in dem die Deutschen gelernt haben, sich unter allen Umständen als Pariavolk zu verstehen, dessen Sündenregister bis zum Anfang der Geschichte zurückreicht. Diese Anschauung ist immer weniger die Folge von Volkspädagogik und Verblendung, immer mehr die von Ahnungslosigkeit: einer Ahnungslosigkeit, die indes systematisch gefördert wird, um nach einer ersten Phase der Entwicklung - in der man es besser wußte, aber darauf verzichtete, das bessere Wissen geltend zu machen - in eine finale einzutreten, in der es gar kein besseres Wissen mehr gibt.

Das deutsch-französische Geschichtsbuch wird seinen Teil dazu beitragen, diese Entwicklung zu forcieren. Man sieht insofern dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes mit Unbehagen entgegen. Wenn eine Prognose gewagt werden darf, dann sind die erwartbaren Fehlstellen: das Vordringen Frankreichs gegen die Westgrenze des Reiches, seine Versuche, die Konflikte im Inneren auszunutzen seit der Zeit Heinrichs II., das Testament Richelieus und die Raubkriege Ludwigs XIV., die Annexion des Elsaß und die mörderischen Folgen der Revolution, der Einfluß des Revanchegedankens in der Dritten Republik und die Deutschenhetze im Ersten Weltkrieg.

Für eine Verzeichnung wären besonders geeignet: die deutsche Bezugnahme auf Karl den Großen und die imperialen Ansprüche der Staufer, der zivilisierende Einfluß der französischen Kultur und die Sympathie der Gebildeten für das Deutschland von Weimar, die Rückständigkeit des Reiches, die Barbarei Preußens und der Modernisierungseffekt der napoleonischen Herrschaft, die Impertinenz der deutschen Patrioten, die Perfidie Bismarcks und die Harmlosigkeit Napoleons III., das verständliche Sicherheitsbedürfnis Frankreichs bei der Ausgestaltung des Versailler Vertrages, die guten Gründe für die Unterstützung der westdeutschen Separatisten, den Charme der "Volksfront" und die Unbegreiflichkeit von Hitlers Aufstieg.

Histoire/Geschichte - Europa und die Welt seit 1945 (Deutsche Ausgabe). Ernst Klett Schulbuchverlag, Leipzig 2006, 336 Seiten, 25 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen