© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Widerstand gegen den polnischen Grenzkampf
Administrative Maßnahmen zur Abwehr polnischer Begehrlichkeiten führten vor 1938 zur Vergrößerung Pommerns
Doris Neujahr

Gab es im "Dritten Reich" zumindest in Friedenszeiten auch eine normale Sachpolitik? Die folgende Darstellung zweier Dokumente aus dem Bundesarchiv könnte darüber Aufschluß geben. Am 5. Februar 1936 richtete das Amt für Kommunalpolitik der Gauleitung Pommern in Stettin einen ausführlichen Bericht an die Reichsleitung in München, und zwar als Antwort auf ein Rundschreiben, in dem die Reichsleitung einen Rapport zur Lage der Grenzlandgemeinden angefordert hatte. In Pommern betraf das die Kreise Rummelsburg, Bütow, Stolp und Lauenburg, die nach der vom Versailler Vertrag bestimmten Abtretung Westpreußens an Polen grenzten. Der Bericht listete die wirtschaftlichen Schäden auf, die diese Regelung nach sich zog.

Ostpommern war landwirtschaftlich geprägt. Im Kreis Rummelsburg war die Wirkung der neuen Randlage beträchtlich, aber noch am wenigsten gravierend, denn hier herrschte der robustere Großgrundbesitz vor. Ein großer Teil der Käufer aus dem jetzt polnischen Konitz, die früher in Rummelsburg eingekauft hatten, blieb aus, was zahlreiche Geschäftsleute in den Ruin trieb. Die 450jährige Zunft der Rummelsburger Tuchmacher, die ihre Produkte vor allem im Wandergewerbe in Westpreußen verkauft hatten, war zum Erliegen gekommen. Ihnen dürfte, so der Bericht, nicht mehr zu helfen sein. Deutlich zurückgegangen war auch die Zahl der Schuhmacher, von denen viele auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen waren.

Noch problematischer war die Situation im Kreis Bütow, der sich kegelförmig nach Polen hineinschob und eine 85 Kilometer lange Staatsgrenze hatte. Mit 27.000 Einwohnern zählte er zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Deutschlands. 79 Prozent der Einwohner waren bäuerlicher Herkunft, 15 Prozent zählten zum mittleren und nur sechs zum Großgrundbesitz. Die Bütower Landwirtschaft wurde auf sogenanntem "kalten Boden" betrieben, der nur geringe Erträge einbrachte. Der größte Teil der Bevölkerung lebte "daher (in) einer geradezu erschreckenden Armut", die mit Kinderreichtum einherging. Eine gewisse Entspannung war durch Abwanderung eingetreten.

Im Süden des Kreises lebten 4.000 Kaschuben, deren Armut und Kinderreichtum "sprichwörtlich" war. Trotz ihrer slawischen Herkunft standen sie, so die Einschätzung der Gauleitung, dem "deutschen Volkstum" näher als dem polnischen. Durch eine "verständnisvoll und aufmerksam betriebene Grenzlandpolitik" würden sie keine Gefahr bilden, sondern sich friedlich in Pommern einfügen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Bütow im Aufblühen begriffen, was sich mit der neuen Staatsgrenze änderte. In der Kreisstadt gab es jetzt nur noch ein Sägewerk und ein wenig Holzverarbeitung. Die Handwerker befanden sich in großen Schwierigkeiten. Die Bütower hofften auf ein deutsch-polnisches Handelsabkommen, um aus Polen Holz einführen und Fertigwaren exportieren zu können.

In Lauenburg, der östlichsten Ecke Pommerns, hatte der Abbruch der Verbindungen nach Danzig und in den polnischen Korridor zu "schwersten Schädigungen" geführt. Die Industrie war zum Erliegen gekommen, die Arbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen wuchsen "ins Unermeßliche". Auch viele Handwerker mußten Unterstützung durch die Wohlfahrt beantragen. Die Lage hatte sich durch den Zustrom von Flüchtlingen aus den polnisch gewordenen Gebieten zusätzlich verschlimmert. Die Bevölkerungszahl in der Kreisstadt stieg von 14.000 (1914) auf 20.000 Einwohner (Ende 1930). Da gleichzeitig die Fabriken stillgelegt wurden, bedeutete das, daß die Zugezogenen sich ebenfalls arbeitslos melden und öffentliche Unterstützung beantragen mußten. "Partei, Staat und Gemeinden zusammen sorgen sich um den noch erwerbslosen Volksgenossen (...)." Die noch vorhandene Industrie kämpfte um neue Märkte und mit den hohen Transportkosten von Rohmaterial, das aus dem Inneren des Reiches herbeigeschafft werden mußte. Geradezu modern klingt die aufgezeigte Zukunftsperspektive: "Lauenburg bildet sich langsam von einer Industrie-Stadt zu einer Kulturstadt um. Als Folge dieser wirtschaftlichen Umgruppierung werden viele ihre alte Heimat verlassen müssen, um in Industriegebieten für ständig Arbeit und Brot zu finden."

Die Versailler Grenze zerschnitt alte Bindungen

Der Kreis Stolp grenzte zwar nur an seinem Südzipfel an Polen, aber auch er hatte zu leiden. Der Verkehr hatte nachgelassen, die landwirtschaftlichen Produkte, die früher in Westpreußen abgesetzt wurden, mußten jetzt ins Innere des Reiches transportiert werden, was sie verteuerte. Schon die "Systemregierung" hatte das Problem erkannt und eine Frachtkostenerstattung eingeführt.

Die Grenzziehung von 1919, heißt es weiter im Bericht, hatte bei den verwurzelten Bewohnern und Bauern eine tiefe Verunsicherung hinterlassen. Die Grenzkreise konnten ihre wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aufgaben nicht mehr erfüllen. "Sie brachen teilweise zusammen." Die deutsch-polnischen Spannungen kamen als weitere Unsicherheit hinzu. Seit dem Abkommen mit Polen 1934 war zwar "eine erhebliche Besserung eingetreten, doch die alte Ruhe und Sicherheit ist nicht wiedergekommen". Ein großes Problem in Ostpommern war der Lehrermangel. Die Lehrkräfte sträubten sich gegen die Versetzung dorthin. Von Strafversetzungen riet die Gauleitung ab, sie führten nur zu schlechter Motivation. Besser sei eine "besondere Entschädigung" der Lehrer, die sich zum Umzug nach Pommern entschlössen.

Das zweite Dokument ist das vom 13. Juni 1938 datierte Memorandum "Die Grenzen des Gaues Pommern. Denkschrift über die Bereinigung der pommerschen Grenzverhältnisse unter besonderer Berücksichtigung alter und neuer Reformpläne". Gauamtsleiter Werner Faber (zugleich Oberbürgermeister von Stettin) hatte es im Auftrag des Oberpräsidenten Franz Schwede-Coburg für die Reichsleitung verfaßt. Faber machte "schwere Bedenken" gegen Pläne geltend, durch ein preußisches Gesetz die pommerschen Kreise Dramburg und Neustettin mit der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen zu vereinen. Zur Grenzmark gehörten die nach dem Ersten Weltkrieg bei Deutschland verbliebenen Restgebieten der Provinzen Posen und Westpreußen. Die neue Verwaltungseinheit sollte mit der Hauptstadt Schneidemühl einen Regierungsbezirk bilden und der Provinz Brandenburg (Gau Kurmark) zugeschlagen werden.

Faber und Schwede-Coburg waren erst im Sommer 1934 nach Pommern gekommen. Nichtsdestotrotz verteidigten sie jetzt verbissen seinen Territorialbestand und bedienten sich dazu historischer und politischer Argumente. Pommern habe keine starke Herrscherdynastie gehabt und gerade deshalb ein starkes Stammesbewußtsein entwickelt. Das bedeute nicht Eigenbrötlerei, vielmehr betrachteten die Pommern sich als Teil eines Größeren. Dieses Bewußtsein müsse "im Grenzkampf des Ostens" erhalten werden. Gegenüber Brandenburg habe Pommern historische, wirtschaftliche, verkehrstechnische und geographische Nachteile, die zum Teil partei- und wehrpolitisch ausgeglichen würden. So unterstünden die Kreise Schneidemühl, Uckermark und Mecklenburg-Strelitz dem Generalkommando Stettin für den Wehrkreis II.

Im Schriftbild hervorgehoben wurde folgender Satz: "Die völkischen Widerstandskräfte des einen schmalen Grenzstreifen darstellenden Regierungsbezirks Schneidemühl bedürfen eines tiefgestaffelten Rückhaltes nicht an der schmalen Seitenfront, sondern hinter der etwa dreimal größeren Längsfront." Diesen könne nur Pommern abgeben, das sich immer stärker nach Osten ausgerichtet habe. Diese Grenzlandarbeit dürfe angesichts des polnischen Grenzkampfes nicht unterbrochen werden.

Das pommersche Selbstbewußtsein und Zusammengehörigkeitsgefühl sei ein wichtiges Pfund. Würden die Kreise Dramburg und Neustettin abgetrennt, würde aus Pommern ein schmaler, überdehnter Raum werden, dessen östliches Ende zur "Verkümmerungsspitze" würde, gegen die sich die "polnische 'Wachstumsspitze'" um die neue Hafenstadt Gdingen richte. Außerdem würden die polnischen Ansprüche auf Posen-Westpreußen sich auf die zwei pommerschen Kreise erweitern, sie wären ein weiteres "Angriffsziel". Um diese Bedrohung abzuwehren, sollten umgekehrt die Grenzmark und sogar der brandenburgische Kreis Prenzlau sowie Mecklenburg-Strelitz an Pommern angegliedert werden.

Um seine Argumente zu untermauern, legte Faber als Anlage das Papier "Polnische Grenzpolitik" bei, in dem dargestellt wurde, daß am 1. April 1938 mehrere bisher zu den Wojewodschaften Posen und Warschau gehörige Kreise zur Wojewodschaft Pommerellen gekommen waren. Der "Korridor" sei dadurch verbreitert und der polnische Grenzlandbezirk gestärkt worden, in der Fläche um 55, in der Bevölkerungszahl um 73 Prozent. "Diese polnische Maßnahme beweist mit aller Deutlichkeit, mit welcher Konsequenz Polen den Grenzkampf führt. Es erwächst daraus auf deutscher Seite die Notwendigkeit, endlich diesem polnischen Block ebenfalls eine geschlossene Front entgegenzusetzen. Das kann jedoch nur erreicht werden durch eine Grenzbereinigung, wie sie in der vorliegenden Denkschrift gefordert wird, nicht aber durch die im Gesetz vom 22. März ds. Jrs. vorgesehene Grenzänderung (Aufteilung der Grenzbezirke in die Gaue Pommern und Kurmark)."

Pommern hatte Erfolg. Die Provinz erfuhr am 1. Oktober 1938 eine Vergrößerung ihres Territoriums um ein Viertel. Die Provinz Grenzmark-Westpreußen wurde aufgelöst, der größte Teil des Gebietes einschließlich Schneidemühl als neuer Regierungsbezirk mit Pommern vereinigt. Die Regelung galt bis 1945. Dann wurden die Karten völlig neu gemischt.

Fotos: Grenzmark Posen-Westpreußen nach 1920: Der nördliche Teil kam 1938 zu Pommern, der Rest zu Brandenburg und Schlesien; Polnischer Schlagbaum in Filehne an der Unteren Netze, einer seit 1919 geteilten Stadt: Die Arbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen im Grenzland wuchsen ins Unermeßliche


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