© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/07 19. Januar 2007

Als "grotesk" zu den Akten genommen
Sebastian Siebel-Achenbach über Polens "moralisch" gebotene Westverschiebung Richtung Schlesien
Dirk Keller

Die zur Zeit zwischen Deutschen und Polen ausgetragenen geschichtspolitischen Wortgefechte nahmen wieder einmal an Heftigkeit zu, als die Preußische Treuhand kurz vor Weihnachten ihr Restitutionsanliegen den Straßenburger Wächtern über die Menschenrechte zur Beurteilung vorlegte. Wie stets in den letzten Monaten war Polens nationalkonservative Führung auch diesmal mit höchst eigenwilligen Deutungen zur Annexion Ostdeutschlands und der Vertreibung seiner Bewohner zur Hand. Die Treuhand-Klage, so hieß es aus Warschau, sei nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich vollziehe sich in der Bundesrepublik eine Neubewertung des Zweiten Weltkriegs und seiner "moralischen Konsequenzen".

Als "moralisch" scheinen Massenmord, Entrechtung und völkerrechtswidrig-gewaltsamer Gebietserwerb nach polnischem Verständnis vor allem deshalb qualifizierbar, weil damit das am polnischen Volk zwischen 1939 und 1944 begangene Unrecht gesühnt werde. Einmal abgesehen davon, daß es sich in der neuzeitlichen Rechtskultur auch bis zur Weichsel herumgesprochen haben sollte, daß ein Mord nicht durch einen weiteren Mord "geahndet" wird, verdreht der offenbar unirritierbare Verweis auf deutsches Unrecht den Ablauf der historischen Ereignisse bis zur Unkenntlichkeit.

Dies zeigt mit kriminologischem Spürsinn und staatsanwaltlicher Gründlichkeit Sebastian Siebel-Achenbachs Untersuchung über "Niederschlesien 1942 bis 1949". Dreizehn Jahre nach Erscheinen der englischen erscheint von dieser Arbeit nun eine deutsche Ausgabe. In dieser wurden zwar die Veröffentlichungen zur schlesischen Landesgeschichte aus jüngster Zeit nicht mehr berücksichtigt, trotzdem ist sie aber mindestens in ihren diplomatiehistorischen Ergebnissen gleichwohl unüberholt. Untersuchungsziel des Verfassers war es, zunächst den diplomatischen Kontext aufzuhellen, der Polen die Durchsetzung maximaler territorialer Forderungen ermöglichte, und dann den Verlauf der Vertreibung aus Niederschlesien zu schildern. Etwa zwei Drittel des Bandes nimmt diese Darstellung ein, die sich aus in englischen und US-Archiven getätigten Quellenstudien speist. Im restlichen Drittel widmet sich Siebel-Achenbach den "polnischen Anfängen" in diesem Raum, wobei die höchst unchristliche Rolle der polnischen katholischen Kirche sogar noch etwas unterbelichtet erscheint.

Für den aktuellen geschichtspolitischen Disput gilt dabei als wichtigstes Resultat festzuhalten: Die "deutschen Verbrechen" im besetzten Polen haben weder nationalkonservative noch kommunistische polnische Territorialansprüche und Vertreibungsplanungen jemals motiviert. Keinem polnischen Politiker ging es um "moralische Konsequenzen" als Antwort auf die NS-Besatzungspolitik. Auch von westalliierter und sowjetischer Seite hat die heute ins Feld geführte "Moral" der Vergeltung keine Rolle gespielt. Die polnische Exilregierung bewegte sich bei ihren Forderungen nach Annexion der deutschen Ostprovinzen ganz auf den von Roman Dmowski in Versailles ausgetretenen Pfaden. Und zwar in einer so aggressiven und unverfrorenen Weise, daß die Beamten des britischen Foreign Office noch 1943 nicht nur über Gelüste auf das dänische Bornholm, auf Rügen und Fehmarn staunten, sondern Ansprüche auf die Odergrenze, auf Niederschlesien und Pommern als "grotesk" einfach zu den Akten legten. Selbst Churchill fühlte sich während der Teheraner Konferenz (Dezember 1943) von den Polen, diesen "unersättlichen Leuten", peinlich bedrängt. Erst Stalins Idee einer "Westverschiebung", der dann Churchill und Roosevelt aus bündnisstrategischen Erwägungen heraus zustimmten, hat Polens Maximalisten in London und Moskau das Tor zur Oder geöffnet.

Daß Siebel-Achenbach bei der Rekonstruktion der diplomatischen Prozesse nebenbei noch mit der Legende aufräumt, die von Stalin gesteuerten Kommunisten hätten die Annexion Ostdeutschlands gegen die Londoner Verteidiger "Ostpolens" forciert, ist als erwünschter Nebeneffekt zu buchen. Ebenso seine minutiöse Analyse der Verantwortlichkeit für die Massenaustreibung ab Mai 1945 samt ihrer grausamen Begleitumstände, zu denen etwa gehörte, daß im Sommer 1945 in Breslau täglich 300 bis 400 Menschen verhungerten. Nicht den Sowjets, auf deren Fouragewagen die polnische Soldateska als "Sieger" in Schlesien Einzug hielt, sondern allein der polnischen Miliz seien diese "schrecklichen Verhältnisse" anzulasten.

Ob solch aufklärender Materialreichtum, den Siebel-Achenbachs die Zäsur von 1945 ganz bewußt ausklammernde Zeitgeschichte Niederschlesiens bietet, dazu beiträgt, die oft von bundesdeutscher Seite tradierten polnischen Geschichtsmythen über "die wiedergewonnenen Gebiete" und die "moralisch" gebotene "Umsiedlung" zu destruieren, erscheint aber leider zweifelhaft.

Sebastian Siebel-Achenbach: Niederschlesien 1942 bis 1949. Alliierte Diplomatie und Nachkriegswirklichkeit. Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn, Würzburg 2006, gebunden, 336 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Blick auf Schlesiens höchsten Berg, die Schneekoppe: Sogar Gelüste auf das dänische Bornholm


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