© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Ohne Volk
EU-Verfassung: Merkels Politik muß das Recht entgegengestellt werden
Karl Albrecht Schachtschneider

Angela Merkel ist entschlossen, während ihrer Ratspräsidentschaft den toten Vertrag über die Verfassung für Europa wiederzubeleben, ganz oder in den wesentlichen Teilen. Deutschland hat dem Vertrag nicht zugestimmt, geschweige denn diesen ratifiziert. Der Bundespräsident mußte dem Bundesverfassungsgericht zusichern, die Ausfertigung des Zustimmungsgesetzes zu unterlassen, bis das Gericht über die Verfassungsklage des Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler (CSU) entschieden hat. Zur Zeit hat der Berichterstatter des Zweiten Senats, Siegfried Broß, die Akte beiseite gelegt, weil das Schicksal des Vertrages von der Politik geklärt werden müsse. Was die Bundeskanzlerin bestimmt und wer sie führt, ist nicht recht deutlich, aber ihrer Politik muß das Recht entgegengestellt werden.

Die Franzosen und die Niederländer haben Freiheit, Recht und Staat gegen den demokratie- und sozialwidrigen europäischen und globalen Integrationismus verteidigt. Das Sozialprinzip verpflichtet den Staat auf der Grundlage des Freiheitsprinzips und in Verbindung mit der Eigentumsgewährleistung, jedem Menschen ein hinreichendes Eigentum und darum um der Selbständigkeit und Würde der Menschen willen Arbeit zu verschaffen. Wegen der Menschenrechte auf Arbeit und Eigentum darf der Staat die Hoheit über die Volkswirtschaft nicht internationalistischen Kapitaleignern ausliefern. Jeder Mensch muß rechtlich und wirtschaftlich ein Bürger sein können. Das sichert allein eine Republik, aber nur wenn diese demokratisch ist. Die europäische Integration hat der Demokratie der Völker längst die Substanz entzogen und damit dem Sozialprinzip die bewegende Kraft genommen.

Die Frage nach der Gerechtigkeit wird durch Propaganda beantwortet. Die Menschen müssen sich Schuldzuweisungen gefallen lassen: Sie seien zu dumm, zu faul, zu krank, zu alt. Dem Volk wurden seine Unternehmen entwendet, seit die Kapitalverkehrsfreiheit das bestimmende Prinzip der Wirtschaftsordnung ist. Der neoliberale Glaube ideologisiert den Wettbewerb.

Den demokratischen und sozialen Staat, den Rechtsstaat, würden auch die Deutschen verteidigen, wenn man sie denn ließe. Ohne Referenden ist die weitere Entwicklung der Union zum Bundesstaat, die der Verfassungsvertrag betreibt, Verfassungsbruch. Das republikanische Fundamentalprinzip des Artikels 20 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", ist längst nicht mehr Wirklichkeit. Die Macht haben neben Banken, Versicherungen und Industrie die - jedenfalls einige - Staats- und Regierungschefs und der Rat, die Kommission, vor allem der Gerichtshof der Europäischen Union. Sie ziehen alle an einem Strang. Das zahlt sich reichlich aus. Das Europäische Parlament ist entgegen seinem Namen mangels gleicher Wahl keine freiheitliche Vertretung des Volkes oder der Völker. Die Gesetzgebungsbefugnisse dieser Versammlung sind unterentwickelt, im übrigen zu Recht. Ein europäisches Volk mit originärer Hoheit gibt es nicht und ist nicht verfaßt. Es wäre auch nicht europäisch.

Wenn die Türkei in die Union aufgenommen werden sollte, wird - abgesehen von der kulturellen, aufklärerischen Homogenität - die Demokratie weiter geschwächt. Demokratie setzt die kleine Einheit voraus, und nur in kleinen Einheiten hat die Solidarität, das Lebensprinzip einer Republik, eine Chance. Eine große Menge Menschen - jetzt knapp 500, mit der Türkei bald 600 Millionen -, Arbeiter und Verbraucher, alles entmündigte Untertanen, werden durch einen Verfassungsvertrag nicht zu einem Volk, das freiheitlich und demokratisch regiert in einem gemeinsamen Rechts- und Sozialstaat leben kann. Schon jetzt sind die Gewaltenteilung und der Rechtsschutz, Eckpfeiler eines Rechtsstaates, verspielt. Die Rechtsetzung der Union ist exekutivistisch, vor allem bürokratisch, also diktatorisch. Der Gerichtshof erläßt stetig umwälzende Machtsprüche. Die Grundrechte hat er in einem halben Jahrhundert nicht ein einziges Mal gegen die Rechtsetzung der Union durchgesetzt.

Wenn die Völker Europas wirklich demokratisch regiert würden, hätten sie diese Art europäischer Integration nicht mitgemacht. Die Entdemokratisierung ist das Geschäft der Parteienoligarchien. Parteienstaaten sind die Verfallserscheinung der Republik, mit mehr oder weniger demokratischen Elementen und gerade soviel Sozialstaatlichkeit, daß die Völker nicht aufbegehren. Der Internationalismus ist das Mittel zur Entmachtung der Völker.

Die Völker brauchen neue Verträge, welche ihnen die Hoheit und den Menschen die Würde zurückgeben und gewährleisten, daß der Frieden gewahrt bleibt. Nichts sichert den Frieden mehr als die Republikanität im Innern, wie Kant 1795/96 gelehrt hat. Ein Großstaat wird Machtstaat und gefährdet den Frieden. Politische Freiheit ist die Idee Europas. Der Beruf unserer Zeit ist es, ein europäisches Europa, l'europe des états, zu gestalten. Ein Schritt zu einer Verfassung der praktischen Vernunft wäre es, die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union zu suspendieren, bis das Vertragswerk dem Recht genügt. Das verlangt die Entmachtung der demokratiefernen Unionsorgane, zumal des Gerichtshofs. 

 

Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider lehrt Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg.


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