© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Migration bleibt Tabuthema
Sozialpolitik: Frankreich eroberte 2006 den EU-Spitzenplatz bei der Geburtenrate / Staat fördert Nachwuchs
Ellen Kositza

Die Französinnen sind "in Hochform", meldete letzte Woche die Tageszeitung Le Monde. "Frankreich kann mit einem neuen Geburtenrekord im Jahr 2006 aufwarten", schrieb die FAZ. "Mehr Babys durch verändertes Frauenbild", jubelte der Wiener Standard. Bei einer Geburtenziffer von 2,07 Kindern pro Frau von einem "Babyboom" zu reden, ist allerdings eine Übertreibung angesichts der Tatsache, daß mindestens 2,1 Kinder nötig wären, um den "Bevölkerungsbestand" zu sichern.

Dennoch darf Frankreich sich rühmen, den bisherigen EU-Spitzenreiter Irland in punkto Gebärfreudigkeit übertroffen zu haben. 830.900 Geburten (bei knapp 61 Millionen Einwohnern) zählte die nationale Statistikbehörde unseres westlichen Nachbars 2006, während Deutschland - ungleich reicher an potentiellen Eltern - mit rund 670.000 Neugeborenen (bei 82 Millionen Einwohnern) weiterhin bei einer Quote um 1,3 Kindern pro Frau dümpelt. Daß es in anderen EU-Ländern noch weniger als in Deutschland sind, sollte kein Trost sein.

2050 hat Frankreich mehr Einwohner als Deutschland

Erstmals seit 1974 ist damit die "Durchschnittsfranzösin" wieder Mutter zweier Kinder. Die sich daraus ergebenden Prognosen besagen, daß um 2050 Frankreich zum bevölkerungsreichsten Land der jetzigen EU geworden sein wird - denn auch die Zuwanderung dürfte weiter anhalten. Deutschland hingegen wird dann - ebenfalls die Einwanderung miteinberechnet - unter 75 Millionen Einwohner haben. Nahezu die Hälfte der Neugeborenen in Frankreich haben jedoch unverheiratete Eltern (Deutschland: etwa 30 Prozent), das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden liegt knapp unter 30 Jahren (Deutschland: rund 31 Jahre). Die offizielle französische Abtreibungsstatistik nennt sogar eine höhere Quote als in Deutschland.

Vor allem staatliche Maßnahmen werden für Frankreichs Kindersegen verantwortlich gemacht. Vier Prozent des Bruttoinlandsproduktes wendet Frankreich für familienpolitische Maßnahmen auf. Daß es in Deutschland bis dato nur 2,4 Prozent waren, liegt weniger an den hierzulande spitzenmäßigen Direktzahlungen an Eltern, sondern an unterschiedlichen Steuermodellen. In Frankreich sind durch Familiensplitting die Hälfte aller Eltern komplett lohnsteuerfrei gestellt, was vor allem kinderreiche Familien begünstigt.

Daher gleichen sich die Anteile kinderloser Frauen in Deutschland und Frankreich, während in Frankreich Familien mit mindestens drei Kindern zunehmen. Zudem zahlt unser Nachbarland erst ab dem zweiten Kind Kinder- und Erziehungsgeld - übrigens beides deutlich unter dem in Deutschland geltenden Satz. Hinzu kommen in Frankreich allerdings Finanzleistungen zum Schulbeginn und beim Umzug aufgrund von Familienzuwachs.

Größte Relevanz wird den Faktoren weibliche Berufstätigkeit und, flankierend, Kinderbetreuung nachgesagt. Spätestens ab dem dritten Geburtstag eines Kindes ist Erziehung hier regulär nicht mehr Privatsache: 99 Prozent der kleinen Franzosen diesen Alters besuchen die kostenfreien, bis in den Abend geöffneten ecolés maternelles (als Vorschule begriffene Kindergärten), für über ein Drittel der unter Zweijährigen stehen Plätze in den créches collectives (Kinderkrippen) bereit, zudem sind 450.000 staatlich anerkannte Tagesmütter - steuerlich absetzbar - in Privathaushalten tätig. Die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten versprechen zudem, weitere 200.000 (Ségolène Royal) bzw. 600.000 (Nicholas Sarkozy) Krippenplätze für die Allerkleinsten zu schaffen. Obwohl 36 Prozent der zusammenlebenden französischen Eltern (in Deutschland: knapp 40 Prozent) das klassische Alleinverdienermodell praktizieren, ist der Anteil vor allem der Vollzeit arbeitenden Mütter deutlich höher. Während die Hälfte aller deutschen Mütter außerhäuslich arbeitet, gehen in Frankreich zwei Drittel dieser Gruppe einer Lohnarbeit nach.

Zahl der Muslime nimmt immer weiter zu

Wer, ethnisch betrachtet, für den Kindersegen verantwortlich ist, liegt aber im Dunkeln. Als Einwanderer statistisch erfaßbar sind nur jene ohne französischen Paß. Denn im französischen Staatsbürgerschaftsrecht gilt das ius solis (das Territorialprinzip im Gegensatz zum bis 2000 in Deutschland praktizierten ius sanguis, dem Abstammungsprinzip): Wer auf französischem Boden geboren ist, hat bei nur einem französischen Elternteil sofort, ohne französische Eltern bei Erreichen der Volljährigkeit die französische Staatsbürgerschaft - sofern er mindestens fünf Jahre in Frankreich lebte.

Wenig hilfreich in dieser Hinsicht ist die Aussage des Statistikamtes, daß Einwandererfrauen eine "geringfügig höhere" Gebärquote von 2,4 aufweisen. Wobei bereits dies Sprachzauber ist: Im Regelfall beurteilen Statistiker eine Abweichung von solcher Größe als signifikant. Denn sobald Immigranten die französische Staatsbürgerschaft angenommen haben, werden sie in sämtlichen Statistiken lediglich als Franzosen geführt. Die in Deutschland eingeführte Kategorie "Personen mit Migrationshintergrund" gibt es offiziell nicht.

Aufschlußreicher ist daher die Tatsache, daß etwa zehn Prozent aller französischen Bürger Moslems sind, deren Geburtsrate freilich nicht gesondert aufgeführt wird. Als sicher darf daher gelten, daß neben der Einwanderung auch eine beträchtliche Gebärfreudigkeit in den vergangenen sechzig Jahren für ein Anwachsen der muslimischen Bevölkerung von 100.000 auf etwa sechs Millionen sorgte.

Foto: Französische Kinder bei Fußball-WM: Mehr als zwei Kinder pro Frau sind nun wieder der Normallfall


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