© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Die Präferenz für das Eigene
Rückkehr zu den Tatsachen: Zum Tod des Soziologen Karl Otto Hondrich
Karlheinz Weissmann

Seine linken Gegner haben ihn einen "Halbstar" genannt, und vielleicht trifft das tatsächlich den Status Karl Otto Hondrichs in der Ordnung der gesellschaftlichen Subsysteme, in denen er sich vor allem bewegte, der Universität, der Soziologie, der Publizistik. 1937 in Andernach geboren, durchlief er zügig die Stationen des akademischen Aufstiegs, was für seine Generation und die Phase der Bildungsexpansion nicht außergewöhnlich war. Nach der Berufung auf einen Lehrstuhl in Frankfurt am Main, 1972, wurde sein Name jedenfalls nur allmählich bekannter; was er äußerte, blieb konventionell, bewegte sich politisch im Rahmen des linken/halblinken Mainstream.

Eine breitere Öffentlichkeit nahm seine Veröffentlichungen in der Wochenzeitung Die Zeit wahr, für die er regelmäßig Essays schrieb, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als Nachfolger von Ralf Dahrendorf zu handeln oder mit Jürgen Habermas auf eine Stufe zu stellen. Das hatte auch mit der Herkunft aus der Schule René Königs zu tun, deren Einfluß seit den sechziger Jahren zurückging, und mit dem sukzessiven Bedeutungsverlust der Soziologie überhaupt.

Wenn etwas dafür spricht, den Namen Hondrich im Gedächtnis zu behalten, dann seine Einsicht, daß dieser Bedeutungsverlust ein selbstverschuldeter war. Auf dem 26. Deutschen Soziologentag, der 1992 in Düsseldorf stattfand, hielt er einen aufsehenerregenden Vortrag zum Thema "Wovon wir nichts wissen wollten". Was allgemeine Verblüffung auslöste, war die Rücksichtslosigkeit, mit der Hondrich das "Versagen der Soziologie" analysierte. Ein Fachvertreter erklärte den anderen, daß es keine Entschuldigung gebe, daß man sich Jahre und Jahrzehnte mit Abwegigkeiten befaßt habe, normativen Vorgaben nachgerannt sei, anstatt zu klären, was ist, und daß man vor allem in einer Hinsicht jämmerlich gescheitert sei: bei der Prognose. Die Rechtfertigung der Soziologie als einer Wissenschaft, die es erlaube, Voraussagen über die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung zu machen, sei erledigt. Man habe ein künstlich verfinstertes Bild der westlichen Welt und ein geschöntes Bild der sowjetischen gezeichnet, und kein Soziologe habe das Scheitern der Planwirtschaft, des kommunistischen Systems und die Wiederkehr des Nationalismus abgesehen.

Schon im Vorfeld der Wiedervereinigung hatte Hondrich, als es unter (west)deutschen Intellektuellen noch üblich war, die kommende Einheit zu bejammern oder drohend ein neues Desaster auszumalen, nüchtern festgestellt: "Nationalismus und Nationalstaaten lassen sich nicht auf Pathologisches reduzieren, und Relikte sind sie auch nicht. Sie waren Antworten auf historische Herausforderungen - und sind es heute noch." Er hat diese These später dahingehend ausgeführt, daß alle Formen menschlicher Gemeinschaft unter allen Bedingungen durch die "Präferenz für das Eigene" bestimmt seien. Versuche, vor allem in Deutschland, diese Gesetzmäßigkeit zu verkennen, würden unweigerlich zurückschlagen. Das gelte auch und gerade wegen des übergroßen Vertrauens in die Zivilgesellschaft, der Erziehung zur Fremdenfreundlichkeit und der Ignoranz gegenüber dem Bedürfnis nach Identität: "In Wirklichkeit zeigt sich das doppelte Gesicht des Fortschritts. Je offener die Gesellschaft, desto mehr Gewalt und Nationalismus. Wer dies nicht wahrhaben will, riskiert letztlich die Selbstzerstörung der Gesellschaft."

Neben dem Kollaps des Ostblocks und der Wiedervereinigung war es vor allem der erste Golfkrieg, der Hondrich zu der Schlußfolgerung veranlaßte, man müsse Soziologie wieder als Wirklichkeitswissenschaft betreiben. Der Titel seines 1992 erschienenen Buches "Lehrmeister Krieg" sprach für sich: Hondrich vertrat hier die These, daß "Bereitschaft zum Krieg als Bedingung des Friedens" begriffen werden müsse, daß es keine "Weltinnenpolitik" im Vollsinn, bestenfalls einen "Quasi-Weltstaat" geben könne, der faktisch nur auf die wirtschaftliche, militärische und ökonomische Überlegenheit der Industriestaaten zu gründen sei.

Das sind Einsichten, die heute fast als Allgemeingut betrachtet werden können, wer sich aber an die hysterischen Debatten der achtziger und neunziger Jahre erinnert, wird zugeben müssen, daß ein gewisser Mut dazu gehörte, sie offen zu vertreten. Hondrichs Mut hat bis zu diesem Punkt gereicht, nicht weiter. Vor dem letzten Schritt hat er immer zurückgescheut. Seine Veröffentlichungen weisen deshalb ein irritierendes Nebeneinander richtiger Einschätzungen und unangenehmer Reverenzen an den Zeitgeist auf. Vielleicht wird ihm eine Geschichte seiner Disziplin später aber zubilligen, den Weg gebahnt zu haben für eine Rückkehr der Sozialwissenschaften zu den Tatsachen.

Karl Otto Hondrich starb am 16. Januar mit neunundsechzig Jahren in Kronberg im Taunus.

Foto: Karl Otto Hondrich (1937-2007): Er bahnte den Weg, scheute aber selber den letzten Schritt


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