© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Mit einem Stück Speck im Mund
Gott loben: Warum Felix Timmermans bei uns zum meistgelesenen flämischen Dichter wurde
Manfred Müller

Man lobt Gott - "aber mit einem Stück Speck im Munde". So charakterisiert der flämische Dichter Felix Timmermans (1886-1947) den Menschenschlag seiner Vaterstadt Lier an der Schnittstelle zwischen dem Kempenland und Brabant: "Mystisches und sinnliches Leben, diese beiden Gefühlspole stoßen in Lier aneinander. und so findet man hier ... die doppelte Natur: die Schenke neben der Kirche, den mystisch-sinnlichen Menschen, den Himmel ersehnend und das Leben verehrend, den Flamen, wie Bruegel ihn so großartig und tragisch dargestellt hat." Kein anderer flämischer Autor hat im 20. Jahrhundert im deutschen Sprachraum eine solche Auflagenhöhe erreicht (weit über 1,5 Millionen) wie dieses 13. von 14 Kindern armer kleinstädtischer Eltern. Sein fabulierfreudiger Vater zog mit einem Hundewägelchen über Land, um Spitzen zu verkaufen und so die große Familie zu ernähren.

Die erstaunliche Rezeption dieses niederländischsprachigen Dichters im deutschen Kulturraum hat politische und kulturelle Ursachen, aber gründet auch in der sympathischen Persönlichkeit dieses Autors. Durch die deutsche Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg, die im besetzten Belgien die flämischen Emanzipationsbestrebungen förderte, geriet das kulturelle Schaffen Flanderns stärker als bis dahin ins Blickfeld des deutschen Bildungsbürgertums. Der Verleger Anton Kippenberg bemühte sich in besonderer Weise, die zeitgenössische flämische Dichtkunst in ihren Spitzenleistungen den Deutschen zu vermitteln. Er war es, der dafür sorgte, daß in der Weimarer Republik Timmermans (neben Stijn Streuvels und Ernest Claes) als Repräsentant flämischen Dichtens angesehen wurde.

Viele sahen in ihm ein Urbild flämischen Wesens

Bedingt durch die Weltkriegsereignisse und -folgen hatten sich in Deutschland (besonders im rheinischen und niederdeutschen Bereich) Sympathien für das stammverwandte, jahrhundertelang unterdrückte flämische Volk herausgebildet. Dies kam dem Autor Timmermans zugute, der sich klar und unmißverständlich zu seinem Volk bekannte: "Das flämische Volk war durch alle Jahrhunderte hindurch ein tragisches Volk, das einen harten Kampf zu bestehen hatte, um sich als Volk zu behaupten, das sich aber durch seinen Glauben und sein Selbstvertrauen einen frohen Geist und ein mutiges Herz zu erhalten wußte. Man denke daran, daß Eulenspiegel, in dem ein Dichter (Charles de Coster) den tragischen Kampf Flanderns versinnbildlicht hat, zugleich der größte Lacher der Welt ist."

Im November 1918 mußte Timmermans in die Niederlande flüchten, weil er als Parteigänger des flämischen Aktivismus denunziert worden war und ihm scharfe Repressionsmaßnahmen der belgischen Behörden drohten. Im holländischen Exil begann er damit, auf Lese- und Vortragsreisen zu gehen. Dies setzte er auch fort, als er 1920 in die Heimat zurückkehren durfte. Die Reisen führten ihn nach Dänemark, Deutschland, Österreich, in die Schweiz, nach Luxemburg, Polen und Ungarn. Dies trug dazu bei, daß Hunderttausende Europäer in ihm ein Urbild flämischen Wesens sahen - was manche seiner eigenen Landsleute als unrichtig zurückwiesen. Unbestreitbar bleibt, daß der Flame Timmermans mit seinem eigenwilligen künstlerischen Temperament meisterhaft eine Spielart flämischen Wesens künstlerisch gestaltet hat.

Sein Vater erzählte, als wäre er in Galiläa dabeigewesen

Im deutschen Kulturraum hatte Timmermans seine ersten großen Erfolge mit "Pallieter" (1916; dt. 1921) und mit "Das Jesuskind in Flandern" (1917; dt. 1919). Mit dem Roman "Pallieter" hatte sich Timmermans aus einer Lebenskrise freigeschrieben. Die überschäumende Lebensfreude resultierte daraus, daß der Autor eine schwere Krankheit und eine weltanschauliche Krise überwunden hatte (tiefer Pessimismus durch die Beschäftigung mit Theosophie, Okkultismus, Buddhismus). Da das Buch zugleich ein Lobgesang auf die "ewige Schönheit" der Natur war und Pallieter wie Eichendorffs Taugenichts in die Welt hineinzog, fand das Werk bei der deutschen Jugendbewegung begeisterte Aufnahme. Das Buch wurde in 23 Sprachen übersetzt und verschaffte dem Autor Weltgeltung.

"Das Jesuskind in Flandern" leistete damals schon das, was heute in Theologenkreisen als "Inkulturation" des Christentums besprochen wird. Als zwölfjähriger Junge hatte Timmermans in Antwerpen die berühmten Bilder von Pieter Bruegel d.Ä. gesehen, die das Weihnachtsgeschehen "im Rahmen unserer eigenen flandrischen Landschaft" darstellten. Und sein Vater hatte ihm die Begebenheiten des Evangeliums so erzählt, als spielten sie in Flandern und als hätte er das alles miterlebt. Die Gestalten der Heilsgeschichte wurden so bei Timmermans zu echten Flamen. Ähnlichen Erfolg hatte der Autor mit zwei Erzählungen, die er aus dem Kontext religiösen Brauchtums schuf: "Das Tryptichon von den heiligen drei Königen" (dt. 1924) und "Sankt Nikolaus in Not" (dt. 1926).

Die kraftvolle, bilderreiche Sprache ist bei diesem Autor durchtränkt von einem spezifischen Humor. "Unter Humor verstehe ich nicht einen flachen Optimismus, sondern einen Optimismus, unter dem man den Ernst und die Tragik des Lebens spürt, einen Ernst, über dem die Freude siegreich emporblüht." Dies und die einfachen, holzschnittartigen Illustrationen, die der Maler-Dichter seinen Werken beigab, begeisterten die Timmermans-Gemeinde nicht nur in deutschen Landen.

Timmermans wußte, daß die deutsche Übersetzung eines flämischen Werks sehr oft für die Übertragung in andere Sprachen genutzt wurde. Daher bemühte er sich um besonders enge Beziehungen nach Deutschland und änderte dies auch nicht, als Deutschland nationalsozialistisch wurde. 1935 wählten die Scriptores Catholici Flanderns Timmermans zu ihrem Vorsitzenden, in diesem Jahr wurde er auch in die Königliche Flämische Akademie für Sprach- und Literaturwissenschaft aufgenommen.

Nach der Besetzung Belgiens durch die Deutsche Wehrmacht (1940) verübelten flämische Landsleute dem Autor vor allem zwei Entscheidungen: Im Oktober 1941 verband Timmermans eine Reise nach Berlin (Verhandlungen über die Verfilmung von Werken) mit der Teilnahme am nationalsozialistisch gesteuerten Dichtertreffen in Weimar, wo ein Europäischer Schriftstellerverband gegründet wurde. Timmermans und Ernest Claes setzten sich vorzeitig aus Weimar ab. 1942 nahm Timmermans den Rembrandt-Preis der Universität Hamburg entgegen, eine Auszeichnung, die auf Anregung des Mäzens Alfred Toepfer (ein Freund Ernst Jüngers) geschaffen worden war (Förderung der Beziehungen zwischen deutscher und niederländischer Kultur). Nach dem Abzug der Wehrmacht (1944) sah sich der schwer herzkranke und zeitweilig bettlägerige Autor nicht nur wüsten Drohungen ausgesetzt, sondern als Kollaborateur zu Hausarrest verurteilt.

Flandern hatte für deutsche Leser einen Gefühlswert

Nach seinem frühen Tod am 24. Januar vor sechzig Jahren blieb Timmermans' Ruhm in Deutschland von den belgischen Querelen völlig unberührt. Erst durch den kulturellen Klimawechsel infolge der 68er-Kulturrevolution geriet Timmermans mehr und mehr ins Abseits. Die tonangebenden Meinungsmacher der deutschen Literaturszene hätten es gerne gesehen, wenn ein Flame wie Hugo Claus (Jahrgang 1929) in seiner Haßliebe zu Flandern und seiner giftigen Kritik an den flämisch-nationalen und katholischen Kreisen, denen Timmermans verbunden war, fortan das literarische Flandern-Bild in Deutschland bestimmt hätte.

Doch Timmermans' Einfluß wirkte noch nach; "Flandern" war und blieb jedenfalls für einen Teil des deutschen Lesepublikums Timmermans' Flandern. Als 1986 das Hauptwerk von Claus, der Roman "Het verdriet van Belgie" in deutscher Übersetzung auf den Markt kam, erfuhr der Romantitel eine wichtige Änderung: "Der Kummer von Flandern". Ganz offensichtlich wollte der Verlag den Gefühlswert nutzen, den "Flandern" seit den Übersetzungen von Timmermans' Büchern bei den Deutschen besaß: die deftige Bejahung des Lebens, wie sie Timmermans in schwerer Zeit (1944) einer seiner Romangestalten mitgab ("Adriaan Brouwe"): "Das Leben ist eine Suppe mit vier tröstenden Markknochen darin: dem Alkohol, der Liebe, dem Tabak und der Kunst."

Foto: Felix Timmermans mit seinem jüngsten Sohn auf dem Arm (undatierte Aufnahme): Deftige Bejahung des Lebens

Literatur: Felix Timmermans' Bücher "Das Jesuskind in Flandern", "Pallieter", "Das Triptychon von den Heiligen Drei Königen" und "Sankt Nikolaus in Not" sind im Insel Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.


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