© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Rechtsprechung als Machtattitüde
Eine Justizschelte
Peter Lebitsch

Soziale Probleme rechtlich statt politisch zu lösen, ist eine Unsitte, die in Deutschland tief wurzelt. Schon das alte Reichskammergericht jurifizierte politische Fragen - und scheiterte jämmerlich. Straftäter, meint Gisela Friedrichsen, repräsentieren oft Krankheiten der Gesellschaft. Außerdem diktiere die Justiz ethische Normen. In politischen Prozessen bekunden "Richter und Staatsanwälte ihre makellose Gesinnung". Sie definieren, was korrekt sei. Rechtsprechung und Herrschaft bilden zwei Seiten derselben Medaille. Die Träger der schwarzen Robe verkörpern Macht.

Friedrichsen erzählt spektakuläre Justizfälle der Jahre 1989 bis 2004, befriedigt aber keine Gruselwünsche, sondern analysiert Kultur- und Zeitgeschichte, ohne individuelle Schuld zu relativieren. Großes Interesse erregten die Verfahren gegen Mauerschützen. Richter und Angeklagte hatten sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen gemacht. Generell existiere ein "großer Abstand" zwischen beiden. Ohnehin seien die meisten Richter, lautet Friedrichsens Befund, verlängerte Arme der Staatsanwälte. Advokaten, die sich kaum engagieren, und sensationslüsterne Reporter bessern das traurige Bild nicht.

Der humane Strafvollzug soll Täter resozialisieren. Allerdings wolle die Justiz häufig nur abschrecken, und "genußsüchtige, eitle Richter" gäben den Ton an. Verantwortet Frank Schmökel seine Taten? 2002 entkam er aus psychiatrischer Haft und ermordete einen Rentner. Trotz unheilbarer Krankheit muß er lebenslänglich in Haft. Nun sitzt er in einer Gefängnisklinik. "Es geschieht nichts mit ihm. Der Fall Schmökel ist eine Bankrotterklärung der Justiz."

Bedroht das Damoklesschwert eigene Köpfe, trägt die Justiz Samthandschuhe. Ende 2002 wurde ein Amtsrichter wegen Rechtsbeugung verurteilt. Doch der Bundergerichtshof sprach ihn frei. Sonst wären "unabsehbare Folgen für die richterliche Unabhängigkeit entstanden", sagte der zuständige Bundesanwalt. "Die Raben", schreibt Friedrichsen, "haben die Krähe geschont." Dieser skandalöse Freispruch der Justiz in eigener Sache gibt zu denken. Mißversteht man die Gewaltenteilung, ermöglicht sie pure Willkür.

Gisela Friedrichsen: Ich bin doch kein Mörder. Gerichtsreportagen 1989-2004. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2006, broschiert, 320 Seiten, 11,90 Euro


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