© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/07 02. Februar 2007

Wenn der Mensch des Menschen Wolf wird
Der französische Historiker Nicolas Werth erforscht einen grausamen Exzeß der kommunistischen Barbarei unter Stalin: Kannibalismus im Gulag
Peter Lebitsch

Sie haben ihr die Brüste abgeschnitten, die Muskeln, einfach alles, was eßbar ist". Kannibalen lebten nicht nur in Polynesien. 1933 fraßen auf der sibirischen Flußinsel Nasino inmitten des Ob-Stromes von Hunger getriebene Gefangene des Gulag Menschenfleisch.

Nicolaus Werth, der das "Schwarzbuch des Kommunismus" herausgab, untersucht eine "Episode", die die stalinistische Barbarei bloßstellt.

Anfang der neunziger Jahre öffneten russische Archive - leider nur kurzfristig - ihre Pforten. Werth entdeckte dabei bisher Unbekanntes. Genrich Jagoda, Chef der GPU, erfand 1932/33 einen "großartigen Plan". Zwei Millionen Kulaken hatte man bereits in abgelegene Teile Sibiriens verschleppt. Nun sollten "deklassierte städtische Elemente" die Tundra landwirtschaftlich urbar machen. Mehr Getreide galt es zu ernten, denn der Kornverkauf finanzierte die Industrialisierung. West- und Nordsibirien sollte diemal "als Auffangbecken für menschlichen Abschaum" dienen. "Sozial gefährliche" Bewohner der Großstädte, aber auch Alte, Kranke, politisch Mißliebige, oft aber auch willkürlich zur Erreichung der geforderten "Quote" Verhaftete deportierte die sowjetische Führung und beutete sie aus. Manchmal wurden sogar verdiente kommunistische Aktivisten, die beispielsweise keinen Paß vorzeigen konnten, von der Straße weg in Lager geschleift.

Ehemals freie sibirische Bauern vagabundierten und raubten damals in weiten Landstrichen der westsibirischen Unendlichkeit. Gefängnisse waren "überfüllt", und Häftlinge, die kurzzeitige Strafen absaßen, steckte man ebenfalls in "Siedlungsdörfer".

Mitte 1933 erreichten Zehntausende "Arbeitssiedler" per Eisenbahn die Kommandantur Alexandro-Wachowskaja, darunter Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzten, Alte und Gebrechliche, willkürlich selektierte "Schmarotzer", vom Hunger zermürbt. Nicht einmal die primitivsten Werkzeuge standen den "Siedlern" zur Verfügung. Dann folgten Tausende "deklassierte Elemente". Sie hätten Leningrad und Moskau "verunreinigt". "Abgemagert und zerlumpt" hausten diese "Parasiten" jetzt in Erdlöchern. Schon nach wenigen Tagen verhungerten etwa hundert Menschen. Wärter töteten manche Deportierte und stahlen ihre kümmerlichen Habseligkeiten. Andere Unglückliche versuchten zu fliehen und wurden erschossen.

Der Lagerchef ließ die übrigen auf die Insel Nasino bringen und beabsichtigte, sie später weiterzutransportieren. Bald entdeckten GPU-Schergen "zerlegte Leichen und gegrilltes Menschenfleisch", fanden Tote ohne Leber, Herz und Lunge, sahen erschlagene Frauen, denen Brüste und Waden fehlten. Nicht der Hunger verursache kannibalische Orgien, hieß es seitens der Behörden. Notorische Menschenfresser seien schuld.

Anders sahen es die Opfer sowjetischer Willkür: "Ihr laßt das Volk verhungern. Na, dann fressen wir uns eben gegenseitig." Sie nannten dies "Kühe schlachten". Das "Blutbad von Nasino" ging in vielen Ansiedlungsorten weiter. Die Gefangenen sollten "noch ein bißchen Holz fällen, bevor sie sterben", sei es durch Erschießungen, Hunger oder Totschlag. Fälle von Kannibalismus, so Werth, gab es auch unter Deportierten in mancher Zarenzeit, aber in der bolschewistischen Ära vertierten Menschen noch schlimmer.

Die "Umgesiedelten", lautete das kalte bürokratische Resümee der Sowjets, waren "völlig ungeeignet", braches Land zu kultivieren. Es gelang "nur", die Zahl "gefährlicher" Menschen zu reduzieren. Jagodas absurde Pseudoutopie legte Stalin ad acta. Künftig bevorzugte er "Arbeitslager".

Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Siedler Verlag, München 2006, gebunden, 222 Seiten, 19,95 Euro


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