© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/07 16. Februar 2007

Im Strahlungsfeld der Ideen
"Dieser andere Weg der Moderne": Max Klinger war ein Übergangsmensch, nach ihm ist die Kunst geschrumpf
Wolfgang Saur

Max Klinger ist eine sonderbare Gestalt im Pantheon deutscher Kunst. So bizarr wie seine Erscheinung auch seine Wirkung, die zwischen größter Zu-, dann Abneigung oszillierte. Eine objektive Kritik wird erst neuerdings möglich.

Gründlich würdigte ihn erstmals Georg Brandes 1880 in Berlin. In dessen Stimmungsbildern schwankt der Zeitgeist noch im vagen Urteil. Wir lesen von verzeichneten Stücken, bei denen "das Barocke und Häßliche sich inmitten des Reizvollen und Genialen als störend erweist". Doch heißt es zuletzt: "Seine Phantasie bohrt sich gleichsam in das Zentrum, dem die schwellende Fülle des Lebens entströmt, (...) sie formt neue Organismen, neue Fabeltiere, neue Ausdrücke für Gefühle, (...) Sinnbilder der Glückseligkeit, der Entbehrung, des Grauens und der Vernichtung." Solch schwungvolle Eloge mutierte in der Folgezeit zum klassischen Urteil. Es erhob Klinger 1906 zum "geistigen Führer der Zeit" - so der Kunstkritiker Ludwig Hevesi.

Doch nach seinem Tod 1920 war er schnell vergessen. Streng brachte Richard Hamann die Haltung der liberalen Modernisten 1932 auf den Punkt: "Vollends gescheitert ist die für ihre Zeit so bedeutungsvolle, uns heute nicht nur fremde, sondern auch unzeitgemäß erscheinende Kunst von Max Klinger." Aus der Perspektive eines "Fortschritts" der Künste zur reinen Farbe und Form, zum Material, mußte sich die pathetisch aufgeladene, anspielungsreich schillernde Kunst Klingers mit all ihrem weltanschaulichen Synkretismus und stilistischen Eklektizismus schlicht als Kitsch ausnehmen.

Die Widersprüche der Zeit provozieren Verwerfungen

Klinger war der Übergangsmensch einer Moderne, deren reale Widersprüche in seinem Werk Verwerfungen, Phantasmen und skurrile Hybridbildungen provozierten. "Sein vielgestaltiges Werk beeindruckte so unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten wie Käthe Kollwitz, Alfred Kubin, Edvard Munch und Giogio de Chirico", so Renate Hartleb 1985. "Klinger bereicherte den Realismus und den Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts, näherte sich auch der idealistischen Gründerkunst, wurde zum Hauptvertreter des Symbolismus und gilt darüber hinaus als Vorläufer des Surrealismus."

Max Klinger wird am 18. Februar 1857 in Leipzig geboren. Er studiert 1874 bis 1876 in Karlsruhe und Berlin. Dort hat er 1878 sein Ausstellungsdebüt mit dem noch heute faszinierenden Bild "Überfall". Fünf Männer stehen einander in seltsam undefinierter Situation gegenüber - vor einer langen Klinkermauer, auf grünem Plan, unter blauem Himmelsstrich. Wie eine abstrakte Staffage wirkt die Lokalität und erstarrt die Figuren in ihr.

Klinger ist sagenhaft produktiv, vielseitig interessiert, gebildet und kommunikativ. Er eilt von Erfolg zu Erfolg, reist viel, hält sich in Berlin, Paris, Italien, Griechenland auf. Dann läßt er sich in Leipzig nieder und erhält 1897 an der dortigen Akademie der graphischen Künste eine Professur. Die folgenden Jahre sind angefüllt mit reger Tätigkeit. Zum Höhepunkt seiner Laufbahn wird zweifellos die Präsentation des Beethoven-Monuments auf der Wiener Sezession 1902. Das Ambiente dafür wird aufwendig gestaltet durch Wiener Jugendstilkünstler, zumal Gustav Klimt. Musikaufführungen erheben das Ganze vollends zum Gesamtkunstwerk und lassen es als den "großen, gesammelten Ausdruck unserer Weltanschauung" erscheinen. Nach einem Schlaganfall 1919 stirbt Klinger 1920 in Großjena bei Naumburg.

Klinger fasziniert durch Vielseitigkeit. Die reflektieren seine diversen Stoffe ebenso wie seine Ausdrucksformen. Als Künstler um 1900 steht er im Strahlungsfeld zahlreicher Ideen und Tendenzen wie im Dialog mit Anregern und Freunden: Rodin, Brahms, Reger, Nietzsche, Wagner, Zola und Böcklin. Als Themenkreise und Genres beschäftigen ihn antike Mythologie, christlicher Glaube, Weltliteratur, Sozialkritik, phantastisch-surreale Motive und Porträt. Hochprofessionell arbeitet er stets mit größter Sorgfalt, am Ganzen wie en detail. Seine Phantasie strebt zur rituellen Verdichtung. Die zeigt sich etwa in der seriellen Zyklenform der Zeichnungen und Druckgrafik. Klinger hat die Radierung zu höchster Vollendung geführt. Seine Radierfolgen sind weit verbreitet, die surrealen Motive: Grauen, Angst, Traum, Tod prominent. Andere Mappen, so die "Dramen", widmen sich der Zeitkritik. Diese subtile Radierkunst sagt heutiger Kunstwissenschaft besonders zu.

Surreale Motive durchziehen Klingers Radierfolgen

Nicht so präsent dagegen sind seine großen Ölbilder, die "Blaue Stunde" (1890) etwa, ein Schlüsselbild der "Stilkunst". Zur Sensation geriet das Monumentalwerk "Christus im Olymp" (1893, 5,50 x 9 Meter). Christliche Offenbarung und Heidentum stoßen aufeinander und werden einer ideenreichen, vielschichtigen Synthese integriert. Diesem Anspruch dient auch die üppige Rahmenarchitektur aus Predella, Randleisten, Gesims und plastisch gestalteten Seitenfeldern. Künstlerischer Totalitätsanspruch kombiniert so unterschiedliche Medien und nähert sich der Raumform an.

Das wird offenkundig bei Klingers Großplastiken, die er aus kostbarem Marmor, oft inkrustiert oder farbig gefaßt, schuf. Seine weiblichen Figuren nehmen dabei den mythischen Typ der femme fatale auf, so seine "neue Salome" (1893) und "Kassandra" (1895). Zum ungeheuren Ausdruck seines komplexen Kunstanspruchs wurde die gewaltige Beethovenfigur 1902. "Mit umdüstertem Antlitz sitzt der Komponist wie ein neuer Prometheus, aber auch erhaben wie ein neuer Jupiter auf einem gewaltigen Thron, eine heroisch stilisierte Aktfigur von gedrungener Statur", so der Kunsthistoriker Norbert Wolf.

Zu Füßen hockt ein großer Adler, Symbol des freien Genies und der göttlichen Inspiration, Emblem auch des Johannes. Der taucht auf im Bildprogramm der Rückseite mit der Geburt der Venus und der Kreuzigung Christi. Das polychrome Werk ist aus kostbaren Steinen gearbeitet, es koppelt "Naturalismus an Visionäres, Detailbesessenheit an summarische Monumentalität". Der "titanische Künstlergott" wird gefeiert, Nietzsches Übermenschen und der Kunstreligion des fin de siècle hier ein Denkmal gesetzt. Sakral dargeboten, durchbricht es Normalität. Wagners "Ring" und Klingers Gesamtkunstwerk liegen auf der Linie einer Neuen Mythologie, die Wirklichkeit und Mensch transformieren will.

Diese ästhetische Utopie wurde ausgelöscht; Kunst ist seither geschrumpft. Kein höheres Zeichen mehr, votiert sie heute selbstbezüglich, meint reflexiv nur noch Momente in einem offenen Feld.

So bedeutet es viel, wenn die Historiker Max Klinger rehabilitieren: "Setzt man die Akzente einer Geschichte der Moderne anders und läßt man neben dem Hauptstrom, der vom Impressionismus (...) zur Abstraktion führte, einen anderen Weg gelten - den zum Surrealismus, so ist Klinger einer seiner wichtigsten Väter", schrieb Heinrich Klotz in seinem Standardwerk "Geschichte der deutschen Kunst. Neuzeit und Moderne". Und weiter: "Weder das Autonomwerden der Farbe noch das Aufgeben des Gegenstandes, sondern die Erfindung einer 'Wirklichkeit' jenseits der Realität war hier das Ziel. (...) Mit Max Klinger öffnete sich zum Ende des 19. Jahrhunderts dieser andere Weg der Moderne."

Max Klinger, "Arbeit-Wohlstand-Schönheit", Detailansicht, 1919: Aus der Perspektive des "Fortschritts" erscheint seine Kunst als Kitsch


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