© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/07 16. Februar 2007

Der Krieg wurde gegen die eigenen Soldaten fortgesetzt
Eine Dissertation bereitet die fatale Geschichte russischer Kriegsgefangener nach ihrer "Befreiung" durch die Alliierten 1945 auf
Hans-Joachim von Leesen

Während des deutsch-sowjetischen Krieges gerieten etwa 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Gefangenschaft. Eine Million Rotarmisten liefen über, das sei "die größte militärische Desertionsbewegung der modernen Militärgeschichte gewesen", teilt die in Nürnberg lebende Historikerin Ulrike Goeken-Haidl in ihrem soeben erschienenen voluminösen Werk "Der Weg zurück - Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg" mit. Das Buch liefert am Rande die zusätzliche Information, daß auch 100.000 britische und 40.000 US-amerikanische Soldaten übergelaufen seien. Rechnet man die angeblich 4,1 Millionen Sowjetbürger und -bürgerinnen hinzu, die nach sowjetischen Angaben entweder freiwillig oder häufiger gezwungen für die deutsche Seite arbeiteten, galt es nach der deutschen Niederlage im Mai 1945 etwa zehn Millionen Menschen in die Sowjetunion zu repatriieren.

Die Alliierten hatten auf der Konferenz von Jalta vereinbart, daß die Westmächte die in ihre Hand gefallenen Sowjetbürger - seien es Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter und -arbeiterinnen, seien es gar die in den Reihen der deutschen Wehrmacht und der "Russischen Befreiungsarmee" (ROA) kämpfenden antibolschewistischen ehemals sowjetischen Soldaten - auch gegen ihren Willen, das heißt mit Gewalt in die Sowjetunion zurückbringen würden.

Goeken-Haidl, heute in Nürnberg unter anderem als sozialdemokratische Kommunalpolitikerin tätig, hat dieses Kapitel des Zweiten Weltkrieges in Archiven in Moskau, Minsk und in den USA gründlich erforscht und daraus eine ungewöhnlich umfangreiche Dissertation geschrieben. Die Lektüre und Auswertung ihres Buches könnte zu einer veränderten Sicht des deutsch-sowjetischen Krieges ebenso führen, wie es wohl die letzten bekehren könnte, die immer noch glauben, der Kommunismus sei eine gute Sache, die nur schlecht umgesetzt worden sei.

Gefangene Rotarmisten galten als Vaterlandsverräter

Stalins Sowjetregierung betrachtete alle Bürger ihres Landes, die in den Machtbereich Deutschlands und seiner Verbündeten geraten waren, als Vaterlandsverräter. Der sowjetische Soldat durfte sich nicht gefangennehmen lassen, er hatte zu kämpfen bis zum Tod. Tat er das nicht, war er ein Kollaborateur, der mit aller Härte - auch mit dem Tode - zu betrafen sei.

Schon vor Aufstellung und Einsatz der beiden Divisionen der Russischen Befreiungsarmee unter General Andrej Wlassow gerieten Angehörige nationaler Ostlegionen in Italien, dann an der Invasionsfront (dort waren 115.000 Soldaten der Osttruppen eingesetzt) in westalliierte Gefangenschaft, von deren Existenz zwar die westlichen Geheimdienste, nicht aber die Fronttruppen wußten und darüber in erhebliche Verwirrung gerieten. Als sie repatriiert werden sollten, leisteten die meisten Widerstand - zur Verblüffung der Briten und Amerikaner, die, wie Goeken-Haidl zitiert, "glückselig prosowjetisch und leidenschaftlich antideutsch" waren. Ihr Haß traf auch Russen in deutschen Uniformen, die in Frankreich gegen Briten und Amerikaner gekämpft hatten.

Als der Krieg beendet war, begann mit der Rückführung auch der Widerstand der ehemaligen Sowjetbürger auf breiter Front. Tausende von "DPs" ("Displaced Persons" - Verschleppte Personen) versuchten, den sowjetischen Rückführungskommandos zu entkommen. Viele Kriegsgefangene wehrten sich gewaltsam. Die sowjetischen Kommandos gaben deren Personalien in die UdSSR, wo Druck auf die Angehörigen ausgeübt wurde. Als der Widerstand heftiger wurde, schickte der sowjetische Geheimdienst "Gruppen für spezielle Operationen" in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands, aus Frankreich wurden regelmäßig zu Rückkehr unwillige Gefangene gefesselt in sowjetischen Flugzeugen in die Sowjetunion repatriiert. In vielen Lagern der britischen und US-amerikanischen Besatzungszonen spielten sich schreckliche Szenen ab.

Es waren nicht nur von den Briten an die Sowjets ausgelieferte Kosaken, die sich und ihre Familien lieber umbrachten, als in die Hände der Bolschewisten zu geraten. In Kempten und Dachau - die Ereignisse in diesen Lagern schildert die Autorin als Beispiele - trieben Hunderte US-amerikanische Soldaten unter Einsatz ihrer Waffen die Gefangenen auf Lastkraftwagen, um sie den Sowjets auszuliefern. In den USA erregten die Vorgänge in Fort Dix öffentliches Aufsehen, als mit Gewalt 63 Offiziere und 92 Unteroffiziere und Mannschaft russischer Nationalität in deutschen Uniformen mit Gewalt nach Europa zur Auslieferung verschifft werden sollten. Die wehrten sich verzweifelt und flehten die US-Soldaten an, sie zu erschießen. Die aber hatten Befehl, nur auf die Beine zu schießen, damit die antikommunistischen Russen noch lebend in die Hände der Bolschewisten gegeben werden konnten. Das geschah dann auch tatsächlich. Über deren Schicksal ist nichts bekannt. Andere russische Gefangene erhängten sich angesichts dieser Szenen.

Wie alle anderen Repatriierten wurden sie in der sowjetischen Besatzungszone in Überprüfungs-Filtrationslager des sowjetischen Geheimdienstes gesteckt, immer wieder verhört, gequält, gefoltert, damit sie die erwünschten Geständnisse ablegten. Ostarbeiterinnen, die ebenso in Lager gesperrt wurden, waren Freiwild für sowjetische Offiziere. Erst nach frühestens zwei Jahren gelangten die meisten wieder in ihre Heimatgebiete, stigmatisiert als Verräter. Viele wurden zur Haft in Arbeitserziehungslagern, zu Zwangsarbeit, aber auch zum Tode verurteilt. Ihre Angehörigen in der Heimat wurden verhaftet und oft für fünf Jahre in entlegene Gebiete der UdSSR verbracht. Ihre Nachkommen wurden bis 1995 diskriminiert, erst dann wurden sie durch ein Dekret von Boris Jelzin rehabilitiert.

Sippenhaftung für Familien sowjetischer Gefangener

Ein schreckliches Licht auf die Verhältnisse unter dem Kommunismus wirft die Tatsache, daß von 1941 bis 1945 über 994.000 sowjetische Soldaten von Militärtribunalen verurteilt worden waren, davon 157.000 zum Tode. Das Buch von Ulrike Goeken-Haidl wirft eine Fülle von Aspekten auf den Kommunismus wie auf das Leben in der Sowjetunion. Mit einiger Spannung darf man auf die Reaktion jener warten, die uns immer noch einreden wollen, wir seien nicht zuletzt von der ruhmreichen Sowjetunion 1945 befreit worden. Nicht einmal die eigenen hier lebenden Landsleute konnten dieses Gefühl der Befreiung teilen.

Ulrike Goeken-Haidl: Der Weg zurück - Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Klartext Verlag, Essen 2006, gebunden, 574 Seiten, 39,90 Euro

Foto: Kriegsgefangene Rotarmisten 1941: 5,7 Millionen Kollaborateure


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