© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

"Nennen wir die Dinge doch beim Namen"
Dokumentation: Die Rede des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 10. Februar 2007

Vielen Dank, verehrte Frau Kanzlerin, für die Einladung an den Tisch der Konferenz, die Politiker, Militärs, Unternehmer und Experten aus mehr als 40 Ländern der Welt zusammengeführt hat. Das Format der Konferenz gibt mir die Möglichkeit, der "übertriebenen Höflichkeit" zu entgehen, mit geschliffenen, angenehmen, aber leeren diplomatischen Worthülsen sprechen zu müssen. Das Format der Konferenz erlaubt, das zu sagen, was ich wirklich über die Probleme der internationalen Sicherheit denke. Und wenn meine Überlegungen meinen Kollegen allzu polemisch oder ungenau erscheinen, ärgern Sie sich bitte nicht über mich - es ist doch nur eine Konferenz. Und ich hoffe, daß nicht schon nach zwei, drei Minuten meines Auftrittes Herr Teltschik das "Rotlicht" aufleuchten läßt.

Also. Es ist bekannt, daß die Problematik der internationalen Sicherheit bedeutend breiter ist als die Fragen der militärpolitischen Stabilität. Dazu gehören die Beständigkeit der Weltwirtschaft, die Überwindung der Armut, die ökonomische Sicherheit und die Entwicklung des Dialogs zwischen den Zivilisationen. Dieser allumfassende, unteilbare Charakter der Sicherheit drückt sich auch in dem Grundprinzip aus: "Die Sicherheit des Einzelnen - das ist die Sicherheit aller". Wie sagte doch Franklin Roosevelt schon in den ersten Tagen des Zweiten Weltkrieges: "Wo auch immer der Frieden gebrochen wird, ist er gleichzeitig überall bedroht und in Gefahr." Diese Worte haben bis heute ihre Aktualität behalten. Davon zeugt übrigens auch das Thema unserer Konferenz, so wie es hier geschrieben steht: "Globale Krisen - globale Verantwortung".

Vor gerade einmal zwei Jahrzehnten war die Welt ideologisch und wirtschaftlich zerbrochen, aber ihre Sicherheit garantierten die gewaltigen strategischen Potentiale zweier Supermächte. Der globale Gegensatz schob äußerst drängende ökonomische und soziale Fragen an den Rand der internationalen Beziehungen und Tagesordnungen. Und wie jeder Krieg hinterließ uns auch der "Kalte Krieg" - bildlich ausgedrückt - "Blindgänger". Ich meine damit ideologische Stereotypen, doppelte Standards, irgendwelche Schablonen des Blockdenkens. Die nach dem "Kalten Krieg" vorgeschlagene monopolare Welt kam auch nicht zustande. Die Menschheitsgeschichte kennt natürlich auch Perioden monopolaren Zustandes und des Strebens nach Weltherrschaft. Alles war schon mal da in der Geschichte der Menschheit. Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: Es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungszentrum.

Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört. Das hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Weil Demokratie bekanntermaßen die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit. Nebenbei gesagt, lehrt man uns, Rußland, ständig Demokratie. Nur die, die uns lehren, haben ihrerseits aus irgendeinem Grund keine rechte Lust zu lernen.

Ich denke, daß für die heutige Welt das monopolare Modell nicht nur ungeeignet, sondern überhaupt unmöglich ist. Nicht nur, weil für eine Einzel-Führerschaft in der heutigen, gerade in der heutigen, Welt weder die militärpolitischen, noch die ökonomischen Ressourcen ausreichen. Aber was noch wichtiger ist - das Modell selbst erweist sich als nicht praktikabel, weil es selbst keine Basis hat und nicht die sittlich-moralische Basis der modernen Zivilisation sein kann. Damit ist alles, was heute in der Welt geschieht - und wir fangen jetzt erst an, darüber zu diskutieren - eine Folge der Versuche, solch eine Konzeption der monopolaren Welt in die internationalen Beziehungen einzuführen.

Und mit welchem Ergebnis? Einseitige, oft nicht legitime Handlungen haben nicht ein einziges Problem gelöst. Vielmehr waren sie Ausgangspunkt neuer menschlicher Tragödien und Spannungsherde. Urteilen Sie selbst: Die Kriege, die lokalen und regionalen Konflikte sind nicht weniger geworden. Herr Teltschik hat ganz vorsichtig daran erinnert. Und es sterben nicht weniger Menschen bei diesen Konflikten als früher, sondern sogar mehr. Bedeutend mehr! Heute beobachten wir eine fast unbegrenzte, hypertrophierte Anwendung von Gewalt - militärischer Gewalt - in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann nicht die Kräfte für eine komplexe Lösung wenigstens eines dieser Konflikte. Eine politische Lösung ist ebenfalls unmöglich. Wir sehen eine immer stärkere Nichtbeachtung grundlegender Prinzipien des Völkerrechts. Mehr noch - bestimmte Normen, ja eigentlich fast das gesamte Rechtssystem eines Staates, vor allem natürlich der Vereinigten Staaten, hat seine Grenzen in allen Sphären überschritten: Sowohl in der Wirtschaft, der Politik wie im humanitären Bereich wird es anderen Staaten aufgezwungen. Nun, wem gefällt das schon?

In den internationalen Angelegenheiten begegnet man immer öfter dem Bestreben, die eine oder andere Frage ausgehend von einer sogenannten politischen Zweckmäßigkeit auf der Grundlage der gegenwärtigen politischen Konjunktur zu lösen. Das ist allerdings äußerst gefährlich. Es führt dazu, daß sich schon niemand mehr in Sicherheit fühlt. Ich will das unterstreichen - niemand fühlt sich mehr sicher! Weil sich niemand mehr hinter dem Völkerrecht wie hinter einer schützenden Wand verstecken kann. Eine solche Politik erweist sich als Katalysator für das Wettrüsten.

Die Dominanz des Faktors Gewalt löst in einer Reihe von Ländern den Drang nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen aus. Mehr noch - es erschienen ganz neue Bedrohungen, die zwar früher schon bekannt waren, aber heute globalen Charakter annehmen, wie der Terrorismus. Ich bin überzeugt, daß wir heute an einem Grenzpunkt angelangt sind, an dem wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken sollten. Man muß ablassen von der Suche nach einer ausgeklügelten Balance der Interessen aller international handelnden Subjekte. Um so mehr, als sich gerade jetzt die "internationale Landschaft" so spürbar und so schnell ändert, und zwar aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung einer ganzen Reihe von Staaten und Regionen.

Die Frau Bundeskanzlerin hat schon darauf aufmerksam gemacht. So ist das summierte BIP Indiens und Chinas hinsichtlich der paritätischen Kaufkraft schon größer als das der USA. Das gleichermaßen berechnete BIP der BRIC-Staaten - Brasilien, Rußland, Indien und China - übersteigt das BIP der EU. Nach Auffassung der Experten wird diese Entwicklung weiter anhalten. Es besteht kein Zweifel, daß das wirtschaftliche Potential neuer Wachstumszentren auf der Welt unausweichlich auch in politischen Einfluß umschlägt und die Multipolarität stärkt. In diesem Zusammenhang wächst auch ernsthaft die Rolle der mehrseitigen Diplomatie. Offenheit, Transparenz und Berechenbarkeit sind in der Politik ohne Alternative, aber die Anwendung von Gewalt sollte ebenso ausgeschlossen sein wie die Anwendung der Todesstrafe in den Rechtssystemen einiger Staaten.

Wir beobachten aber heute im Gegenteil daß Länder, in denen die Anwendung der Todesstrafe sogar gegenüber Mördern und anderen gefährlichen Verbrechern verboten ist, dessenungeachtet an militärischen Aktionen teilnehmen, die schwerlich als legitim zu bezeichnen sind. Doch bei diesen Konflikten sterben Menschen - Hunderte, Tausende friedlicher Menschen!

Gleichzeitig stellt sich die Frage: Sollen wir etwa untätig und willenlos auf die verschiedenen inneren Konflikte in einzelnen Ländern starren, auf das Treiben autoritärer Regimes, von Tyrannen, auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen? Genau hierin lag das Wesen der Frage, die der Bundeskanzlerin von unserem verehrten Kollegen Lieberman gestellt wurde. Das ist tatsächlich eine ernsthafte Frage! Können wir unbeteiligt zusehen, was passiert? Natürlich nicht. Aber haben wir die Mittel, um diesen Bedrohungen zu widerstehen? Natürlich haben wir sie. Wir brauchen uns nur an die jüngste Geschichte zu erinnern. Haben wir nicht in unserem Land einen friedlichen Übergang zur Demokratie vollzogen? Es hat doch eine friedliche Transformation des sowjetischen Regimes stattgefunden. Und was für eines Regimes! Mit welcher Menge an Waffen, darunter Kernwaffen! Warum muß man jetzt bei jeder Gelegenheit bombardieren und schießen? Es kann doch nicht sein, daß es uns bei einem Verzicht auf die Androhung gegenseitiger Vernichtung an politischer Kultur und Achtung vor den Werten der Demokratie und des Rechts fehlt.

Ich bin überzeugt, daß der einzige Mechanismus zur Entscheidung über die Anwendung von Gewalt als letzte Maßnahme nur die Uno-Charta sein darf. In diesem Zusammenhang habe ich auch nicht verstanden, was kürzlich der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, oder er hat sich unklar ausgedrückt. Ich habe jedenfalls verstanden, daß die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der Nato, der EU oder der Uno basiert. Wenn er das tatsächlich meint, dann haben wir verschiedene Standpunkte. Oder ich habe mich verhört.

Legitim ist eine Anwendung von Gewalt nur dann zu nennen, wenn ihr ein Uno-Beschluß zugrunde liegt. Und man darf die Uno nicht durch die Nato oder die EU ersetzen. Und wenn die Uno wirklich die Kräfte der internationalen Gemeinschaft vereint, die tatsächlich auf Ereignisse in einzelnen Staaten reagieren können, wenn wir uns von der Nichtbeachtung internationalen Rechts abkehren, dann kann sich die Situation ändern. Im anderen Fall gerät die Situation nur in eine Sackgasse und es häufen sich die schweren Fehler. Zugleich muß man erreichen, daß das Völkerrecht universalen Charakter erhält, sowohl im Verständnis wie auch in der Anwendung der Normen. Man darf nicht vergessen, daß demokratische Handlungen in der Politik unbedingt eine Diskussion und sorgfältige Ausarbeitung von Entscheidungen voraussetzen.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die potentielle Gefahr einer Destabilisierung der internationalen Beziehungen ist auch mit einem Abrüstungsstau verbunden. Rußland tritt für die Wiederaufnahme des Dialogs zu dieser wichtigen Frage ein. Es ist wichtig, die Beständigkeit der völkerrechtlichen Basis für die Abrüstung zu sichern, gleichzeitig auch die Fortführung des Prozesses der Reduzierung der Kernwaffen zu gewährleisten. Wir haben mit den USA den Abbau unserer strategischen Kernwaffenpotentiale auf 1.700 bis 2.200 Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Rußland beabsichtigt, die übernommenen Verpflichtungen streng einzuhalten. Wir hoffen, daß unsere Partner genauso transparent handeln und nicht für einen "schwarzen Tag" ein paar hundert Sprechköpfe zurücklegen. Und wenn uns heute der neue Verteidigungsminister der USA erklärt, daß die Vereinigten Staaten diese überzähligen Sprengköpfe nicht in Lagern, nicht unter dem Kopfkissen und auch nicht unter der Bettdecke verstecken, dann schlage ich vor, daß sich alle erheben und stehend applaudieren. Das wäre eine sehr wichtige Erklärung.

Rußland hält sich weiterhin wie auch bisher streng an die Verträge über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen und das multilaterale Regime zur Kontrolle von Raketentechnologie. Die in diesen Dokumenten festgehaltenen Prinzipien tragen universellen Charakter. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß die UdSSR und die USA in den achtziger Jahren einen Vertrag über die Liquidierung einer ganzen Klasse von Raketen geringer und mittlerer Reichweite unterzeichnet haben, aber einen universellen Charakter hat dieses Dokument nicht erhalten.

Heute haben schon eine Reihe Staaten solche Raketen: Die Koreanische Volksdemokratische Republik, die Republik Korea, Indien, Iran, Pakistan, Israel. Viele andere Staaten der Welt projektieren solche Systeme und planen, sie mit Waffen zu bestücken. Nur die USA und Rußland haben sich verpflichtet, keine solchen Waffensysteme zu bauen. Klar, daß wir unter solchen Bedingungen über die Gewährleistung unserer eigenen Sicherheit nachdenken müssen.

In Verbindung damit dürfen wir keine neuen destabilisierenden hochtechnologischen Waffenarten zulassen. Nicht zu reden von Maßnahmen zur Erschließung neuer Sphären der Konfrontation, vor allem im Kosmos. Die "Sternenkriege" sind bekanntlich keine Fantasie mehr, sondern Realität. Schon Mitte der 1980er Jahre haben unsere amerikanischen Partner einen eigenen Satelliten in der Praxis abgefangen.

Die Militarisierung des Weltraums kann, nach Auffassung Rußlands, für die Weltgemeinschaft unvorhersehbare Folgen provozieren - nicht weniger als zu Beginn der Kernwaffenära. Wir haben nicht nur einmal Initiativen vorgelegt, die auf den Verzicht auf Waffen im Kosmos gerichtet waren.

Ich möchte Sie heute darüber informieren, daß wir einen Vertragsentwurf über die Vermeidung einer Stationierung von Waffen im Weltraum vorbereitet haben. In der nächsten Zeit wird er allen Partnern als offizieller Vorschlag zugeleitet werden. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.

Uns beunruhigen auch Pläne zum Aufbau von Elementen eines Raketenabwehrsystems in Europa. Wer braucht eine neue Runde eines in diesem Falle unausweichlichen Wettrüstens? Ich zweifele zutiefst daran, daß es die Europäer selbst sind. Über Raketenwaffen, die, um tatsächlich Europa gefährden zu können, eine Reichweite von 5.000 bis 8.000 Kilometern haben müssen, verfügt keines dieser sogenannten "Problemländer". Und in der absehbaren Zukunft werden sie auch keine haben, nicht einmal die Aussicht darauf. Selbst der hypothetische Start einer nordkoreanischen Rakete in Richtung des Territoriums der USA über Westeuropa hinweg widerspricht allen Gesetzen der Ballistik. Wie man bei uns in Rußland sagt, ist das so, "wie wenn man sich mit der linken Hand am rechten Ohr kratzt". Weil ich gerade hier in Deutschland bin, kann ich nicht umhin, an den kritischen Zustand des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte in Europa zu erinnern.

Der adaptierte Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa wurde 1999 unterzeichnet. Er berücksichtigte die neue geopolitische Realität - die Liquidierung des Warschauer Paktes. Seither sind sieben Jahre vergangen, und nur vier Staaten haben dieses Dokument ratifiziert, darunter die Russische Föderation. Die Nato-Länder haben offen erklärt, daß sie den Vertrag, einschließlich der Festlegungen über Begrenzungen bei der Stationierung einer bestimmten Stärke von Streitkräften an den Flanken, so lange nicht ratifizieren werden, bis Rußland seine Basen in Moldawien und Georgien schließt. Aus Georgien ziehen unsere Truppen ab, sogar im Eiltempo. Diese Probleme haben wir mit unseren georgischen Kollegen geklärt, wie allen bekannt sein dürfte. In Moldawien verbleibt eine Gruppierung von anderthalbtausend Wehrpflichtigen, die friedensfördernde Aufgaben erfüllen und Munitionslager bewachen, die noch aus Zeiten der UdSSR übriggeblieben sind. Wir sind ständig im Gespräch mit Herrn Solana über diese Probleme, und er kennt unsere Position. Wir sind bereit, auch weiterhin in dieser Richtung zu arbeiten.

Aber was geschieht zur selben Zeit? In Bulgarien und Rumänien entstehen sogenannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5.000 Mann. Das bedeutet, daß die Nato ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise auf dieses Vorgehen reagieren. Ich denke, es ist offensichtlich, daß der Prozeß der Nato-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr. Doch ich erlaube mir, vor diesem Auditorium daran zu erinnern, was gesagt wurde. Ich möchte ein Zitat von einem Auftritt des Generalsekretärs der Nato, Herrn Wörner, am 17. Mai 1990 in Brüssel bringen. Damals sagte er: "Schon der Fakt, daß wir bereit sind, die Nato-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der BRD zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien." Wo sind diese Garantien?

Die Steine und Betonblocks der Berliner Mauer sind schon längst zu Souvenirs geworden. Aber man darf nicht vergessen, daß ihr Fall auch möglich wurde dank der historischen Wahl auch unseres Volkes, des Volkes Rußlands, eine Wahl zugunsten der Demokratie und Freiheit, der Offenheit und echten Partnerschaft mit allen Mitgliedern der großen europäischen Familie. Jetzt versucht man uns schon wieder neue Teilungslinien und Mauern aufzudrängen -wenn auch virtuelle, trotzdem trennende, die unseren gesamten Kontinent teilen. Soll es nun etwa wieder viele Jahre und Jahrzehnte dauern und den Wechsel von einigen Politiker-Generationen, um diese neuen Mauern zu "demontieren"?

Sehr geehrte Damen und Herren! Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung ein. Die bestehende völkerrechtliche Basis erlaubt es, eine Technologie zur Herstellung von Kernbrennstoff für friedliche Zwecke auszuarbeiten. Und viele Länder wollen auf dieser Grundlage eigene Kernenergie erzeugen als Basis ihrer energetischen Unabhängigkeit. Aber wir verstehen auch, daß diese Technologien schnell für den Erhalt waffenfähigen Materials transformiert werden können.

Das ruft ernsthafte internationale Spannungen hervor. Das deutlichste Beispiel dafür ist die Situation um das iranische Atomprogramm. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht eine kluge Entscheidung zur Lösung dieses Interessenkonflikts ausarbeitet, wird die Welt auch künftig von solchen destabilisierenden Krisen erschüttert werden, weil es mehr Schwellenländer gibt als den Iran, wie wir alle wissen. Wir werden immer wieder mit der Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln konfrontiert werden.

Im vergangenen Jahr hat Rußland eine Initiative zur Schaffung multinationaler Zentren zur Urananreicherung vorgelegt. Wir sind dafür offen, solche Zentren nicht nur in Rußland zu schaffen, sondern auch in anderen Ländern, wo eine legitime friedliche Kernenergiepolitik existiert. Staaten, welche die Erzeugung von Atomenergie entwickeln wollen, könnten garantiert Brennstoff über die unmittelbare Beteiligung an der Arbeit dieser Zentren erhalten, unter strenger Kontrolle der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA).

Mit dem russischen Vorschlag im Einklang stehen auch die jüngsten Initiativen des USA-Präsidenten George W. Bush. Ich meine, daß Rußland und die USA objektiv und in gleichem Maße an einer Verschärfung des Regimes der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln und den Mitteln ihrer Erlangung interessiert sind. Gerade unsere Länder, die mit ihrem Kernwaffen- und Raketenpotential an der Spitze stehen, sollten sich auch an die Spitze stellen bei der Ausarbeitung neuer, härterer Maßnahmen bei der Nichtweiterverbreitung. Rußland ist dazu bereit. Wir führen Konsultationen mit unseren amerikanischen Freunden.

Insgesamt sollten wir über die Schaffung eines ganzen Systems politischer Hebel und ökonomischer Anreize reden, unter denen die Staaten interessiert sind, keine eigenen Möglichkeiten für Kernbrennstoff-Zyklen zu schaffen, und trotzdem die Gelegenheit hätten, die Kernenergie für die Stärkung ihres Energiepotentials zu nutzen. In diesem Zusammenhang verweile ich etwas länger bei der internationalen Zusammenarbeit im Energiebereich. Die Frau Bundeskanzlerin hat ebenfalls kurz zu diesem Thema gesprochen. Im Energiebereich orientiert sich Rußland auf die Schaffung von für alle einheitlichen Marktprinzipien und transparenten Bedingungen. Es ist offensichtlich, daß der Preis für Energieträger sich dem Markt anpassen muß und nicht zum Spielball politischer Spekulationen, ökonomischen Drucks oder von Erpressung werden darf. Wir sind offen für Zusammenarbeit. Ausländische Unternehmen beteiligen sich an unseren größten Projekten zur Energiegewinnung. Nach unterschiedlichen Einschätzungen entfallen bis zu 26 Prozent des in Rußland geförderten Erdöls - merken Sie sich bitte diese Zahl! - auf ausländisches Kapital. Versuchen Sie bitte, mir ein Beispiel von einer ähnlich breiten Beteiligung russischer Unternehmen an Schlüsselbereichen der Wirtschaft westlicher Staaten zu nennen. Es gibt keine!

Ich erinnere auch an das Verhältnis von Investitionen, die nach Rußland kommen, zu jenen, die aus Rußland in andere Länder auf der Welt gehen. Dieses Verhältnis ist etwa 15:1. Hier haben Sie ein leuchtendes Beispiel für die Offenheit und Stabilität der russischen Wirtschaft. Wirtschaftliche Sicherheit, das ist die Sphäre, in der sich alle an einheitliche Prinzipien halten müssen. Wir sind bereit, ehrlich zu konkurrieren.

Dafür hat die russische Wirtschaft immer mehr Möglichkeiten. Das schätzen auch die Analysten und unsere ausländischen Partner ebenso ein. So wurde erst kürzlich Rußlands Rating in der OECD erhöht: Aus der vierten Risikogruppe stieg unser Land in die dritte Gruppe auf. Ich möchte hier und heute in München die Gelegenheit nutzen, unseren deutschen Kollegen für die Zusammenarbeit bei der genannten Entscheidung zu danken. Wie Sie wissen, ist der Prozeß der Einbindung Rußlands in die WTO in der Endphase. Ich stelle fest, daß wir im Laufe langer, schwieriger Verhandlungen nicht ein Wort über die Freiheit des Wortes, über Handelsfreiheit, Chancengleichheit gehört haben, sondern ausschließlich zu unserem, dem russischen Markt.

Noch zu einem anderen wichtigen Thema, das unmittelbar die globale Sicherheit beeinflußt. Heute reden viele von dem Kampf gegen die Armut. Aber was passiert denn wirklich? Einerseits werden für die Hilfsprogramme zugunsten der ärmsten Länder Finanzmittel zur Verfügung gestellt, und nicht einmal geringe. Aber ganz ehrlich, auch das wissen viele, ist es so, daß sich Unternehmen der Geber-Länder dieses Geld "aneignen". Zur selben Zeit werden andererseits in den entwickelten Ländern die Subventionen in der Landwirtschaft aufrechterhalten, wodurch für andere der Zugang zur Hochtechnologie begrenzt wird.

Nennen wir die Dinge doch beim Namen: Mit der einen Hand wird "wohltätige Hilfe" geleistet, aber mit der anderen wird nicht nur die wirtschaftliche Rückständigkeit konserviert, sondern auch noch Profit gescheffelt. Die entstehenden sozialen Spannungen in solchen depressiven Regionen führen unausweichlich zum Anwachsen des Radikalismus und Extremismus, nähren den Terrorismus und lokale Konflikte. Aber wenn das zudem noch, sagen wir, im Nahen Osten geschieht, unter den Bedingungen eines zugespitzten Verständnisses der äußeren Welt als einer ungerechten, dann entsteht das Risiko einer globalen Destabilisierung.

Es ist klar, daß die führenden Länder der Erde die Gefahr sehen müssen. Und dementsprechend ein demokratischeres, gerechteres System der wirtschaftlichen Beziehungen in der Welt schaffen müssen - ein System, das allen die Chance und die Möglichkeit der Entwicklung geben muß. Bei einem Auftritt auf der Sicherheitskonferenz darf man nicht mit Schweigen das Wirken der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa übergehen. Sie wurde bekanntermaßen gegründet, um alle - ich unterstreiche alle - Aspekte der Sicherheit zu überprüfen: den militärpolitischen, den ökonomischen, den humanitären - und dabei alle in ihrem Zusammenhang.

Was sehen wir heute in der Praxis? Wir sehen, daß dieses Gleichgewicht klar gestört ist. Es wird versucht, die OSZE in ein vulgäres Instrument der Absicherung außenpolitischer Interessen der einen oder anderen Staatengruppe gegenüber anderen Staaten zu verwandeln. Dieser Aufgabe wurde auch der bürokratische Apparat der OSZE untergeordnet, der überhaupt nicht mit den Teilnehmerländern verbunden ist. Dieser Aufgabe untergeordnet wurden auch die Prozeduren für die Annahme von Entscheidungen und die Ausnutzung sogenannter "Nicht-Regierungs-Organisationen". Ja, sie sind formal unabhängig, werden aber zielgerichtet finanziert, das heißt kontrolliert.

Entsprechend ihrer Gründungsakte hat die OSZE den Auftrag, mit den Mitgliedsländern auf deren Bitte hin bei der Überwachung der Einhaltung internationaler Normen auf dem Gebiet der Menscherechte zusammenzuarbeiten. Das ist eine wichtige Aufgabe, die wir unterstützen. Aber das bedeutet keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten und erst recht nicht, diesen Staaten aufzudrängen, wie sie zu leben und sich zu entwickeln haben.

Es ist klar, daß eine solche Einmischung nicht dem Reifen von wirklich demokratischen Staaten dient. Im Gegenteil, es macht sie abhängig, und im Ergebnis dessen politisch und wirtschaftlich instabil. Wir erwarten, daß die OSZE sich von ihren unmittelbaren Aufgaben leiten läßt und ihre Beziehungen mit den souveränen Staaten auf der Grundlage der Achtung, des Vertrauens und der Transparenz gestaltet.

Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Abschluß möchte ich folgendes bemerken. Wir hören sehr oft, auch ich persönlich, von unseren Partnern, auch den europäischen, den Aufruf an Rußland, eine noch aktivere Rolle in den Angelegenheiten der Welt zu spielen.

In diesem Zusammenhang gestatte ich mir eine kleine Anmerkung. Man muß uns kaum dazu ermuntern oder drängen. Rußland ist ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte, und fast immer hatte es das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können.

Wir werden an dieser Tradition auch heute nichts ändern. Dabei sehen wir sehr genau, wie sich die Welt verändert hat, schätzen realistisch unsere eigenen Möglichkeiten und unser Potential ein. Und natürlich möchten wir gerne mit verantwortungsvollen und ebenfalls selbständigen Partnern zusammenarbeiten am Aufbau einer gerechten und demokratischen Welt, in der Sicherheit und Aufblühen nicht nur für Auserwählte, sondern für alle gewährleistet ist.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Foto: Putin bei Münchner Rede: Rußland hat das Privileg, eine unabhängige Außenpolitik führen zu können

 

Die Konferenzteilnehmer hätten einen "historischen Tag" erlebt, sagte Gastgeber Horst Teltschik. "Putin hat nicht nur die Münchner Sicherheitspolitiker aufgeschreckt, sondern auch die Anrainer ringsum", schrieb Josef Joffe in der Zeit. Der ebenfalls anwesende US-Senator Joseph Lieberman empfand die Putin-Rede als "konfrontativ". Einiges davon bringe uns "zurück in die Zeit des Kalten Krieges". Führende SPD- und Unionspolitiker widersprachen dieser These. Der FDP-Chef Guido Westerwelle bezeichnete Putins Äußerungen als "klar, aber nicht übermäßig aggressiv", als "offen, aber nicht feindlich". Der Grünen-Verteidigungspolitiker Winfried Nachtwei gab zu bedenken, Putin habe nur "das auf den Tisch geknallt", was sonst "unter dem Teppich diskutiert" werde. Die JF dokumentiert die ungekürzte, vom Russischen ins Deutsche übersetzte Rede von Wladimir Putin. (JF)


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