© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

Effektiver als andere Taktiken der Taliban
Afghanistan: Eine US-Präzisionsbombe verursacht weit mehr Todesopfer unter der Zivilbevölkerung als eine Autobombe der radikalen Islamisten
Marc W. Herold

Das US-Militär und die Medien werden nicht müde, die chirurgische Präzision neu entwickelter Bomben zu preisen. Mit demselben Eifer verurteilen sie die willkürlichen Tötungen durch Selbstmordattentate. Anhand von Statistiken aus Afghanistan läßt sich jedoch das Gegenteil beweisen: Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Einsatzkosten verursacht eine US-Präzisionsbombe weit mehr Todesopfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung als die Autobombe eines Selbstmordattentäters der Taliban.

Immerhin lautet eines der Hauptargumente zugunsten von Präzisionswaffen, die Rettung unschuldiger Leben im Umkreis des Angriffsziels lohne die höheren Kosten für ihre Entwicklung und Herstellung solcher Waffen. Diese hohen Kosten können sich aber nur wenige leisten. So bezeichnet Mike Davis die Autobombe als "Luftwaffe für Arme".

Ein Selbstmordanschlag "kostet" etwa 1.650 Dollar

2006 hat sich die Berichterstattung der Mainstream-Presse verschiedentlich um eine Bilanz der "wichtigsten" Selbstmordattentate in Afghanistan bemüht. Diese Zusammenstellungen sind völlig unzulänglich. Hekmat Karzai und Seth Jones erstellten im Auftrag der Rand Corporation eine Studie, die wissenschaftlichen Ansprüchen eher genügt. Unter anderem enthält sie eine "Datenbank terroristischer Vorfälle", in der die Autoren die steigende Anzahl versuchter Selbstmordanschläge in Afghanistan dokumentieren: Nach einem einzigen fehlgeschlagenen Versuch 2002 gab es in den Folgejahren zwei bzw. sechs derartige Vorfälle. 2005 waren es 21, im ersten Halbjahr 2006 38. Alles weist darauf hin, daß die Zahl steigen wird. Für die Taliban und ihre Verbündeten stellen Selbstmordanschläge und improvisierte Sprengstoffkörper eine sehr effektive Taktik zu Niedrigstkosten dar.

Robert Pape hat überzeugend dargelegt, daß "Selbstmordterrorismus" überall auf der Welt zugenommen hat und daß er einer strategischen Logik folgt. Er befindet sich im Aufschwung, weil er "sich lohnt". Die Rand-Studie bietet eine gute Analyse der Zunahme an Selbstmordanschlägen in Afghanistan. Afghanische Widerstandskämpfer, so die Autoren, konnten sich existierendes Wissen zunutze machen, das anderswo entwickelt wurde (insbesondere im Irak). Al-Qaida und die Taliban seien zu dem Schluß gekommen, daß Selbstmordanschläge effektiver sind als andere Taktiken, um Angehörige einheimischer und ausländischer Truppen zu töten. Die Studie beruft sich auf Statistiken, denen zufolge bei einem direkten Angriff von Widerstandskämpfern auf US- oder andere ausländische Streitkräfte in Afghanistan lediglich eine fünfprozentige Wahrscheinlichkeit besteht, feindliche Soldaten zu töten. (Anderen Statistiken zufolge erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit bei Selbstmordanschlägen auf 18 Prozent.) Al-Qaida und die Taliban glauben, so Karzai und Jones weiter, daß Selbstmordanschläge den Wiederaufbau behindern, indem sie die allgemeine Unsicherheit steigern; schließlich verschafften Selbstmordattentate der Taliban und al-Qaida eine weit größere Medienaufmerksamkeit, als ihnen während des Guerillakampfes von 2002 bis 2005 zuteil wurde.

Eine Detailanalyse aller Selbstmordanschläge in Afghanistan von dem ersten fehlgeschlagenen Versuch am 19. Juli 2002 bis zu der Explosion in Kabul vom 8. September 2006, der acht Angehörige der US-Streit- und Sicherheitskräfte sowie acht afghanische Zivilisten zum Opfer fielen, zeigt, daß afghanische Zivilisten etwa 65 Prozent der Opfer von Selbstmordautobomben ausmachen. Etwa 18 Prozent der Opfer waren Angehörige der US- oder Nato-Truppen. Die relative Zielgenauigkeit der Autobomben erhöht sich noch dadurch, daß bei vielen Autobombenanschlägen Mitglieder der US- oder Nato-Truppen verletzt wurden. Manchmal richten sich Selbstmordattentate gegen prominente Afghanen wie bei dem Anschlag vom 12. März 2006 in Kabul, bei dem zwei Zivilisten ums Leben kamen und das beabsichtigte Opfer, der frühere afghanische Präsident Sibghatullah Mudschaddedi, verwundet wurde.

Selbstmordanschläge mit Autobomben töten oder verletzen unschuldige Passanten, da sie typischerweise in Gegenden mit einem hohen Anteil an Zivilisten ausgeführt werden. Um einen Vergleich mit zivilen Opfern durch US-"Präzisionsbombardement" anstellen zu können, müssen Bombenangriffe der US- bzw. Nato-Truppen herangezogen werden, die Gebiete mit einer vergleichbaren Dichte an Zivilisten trafen.

Für einen solchen Vergleich eignet sich die billige 500 Pfund schwere lasergeleitete GBU-12 Paveway-Bombe. Sie wird von verschiedenen Flugzeugen abgeworfen, unter anderem von den F-16-Kampffliegern, die in Afghanistan ausgiebig zum Einsatz gekommen sind. Berichten zufolge beträgt ihr Tötungsradius 250 Meter, was in Gebieten mit einer hohen Dichte an Zivilisten sehr viel ist. Die Herstellung einer Bombe kostet 19.000 US-Dollar. Die Betriebskosten einer F-16 belaufen sich auf 5.000 US-Dollar pro Flugstunde. Bei einer angenommenen Dauer des Einsatzes von drei Stunden sind dies 15.000 US-Dollar, so daß die Gesamtkosten für den Abwurf einer GBU-12-Bombe 34.000 Dollar betragen.

Ein gebrauchter Toyota Corolla - die bevorzugte Marke der Selbstmordattentäter - Jahrgang 1992 mit einem Kilometerstand von 170.000 hat in Kabul einen Marktwert von ungefähr 3.000 US-Dollar. Angenommen, ein Selbstmordattentäter kauft ein Auto für 1.500 US-Dollar, und seine Ausgaben betragen weitere 150 Dollar (der Sprengstoff ist gratis, da er aus alten russischen oder anderen Beständen stammt, die in Afghanistan reichlich vorhanden sind). Somit belaufen sich die Gesamtkosten eines Anschlags konservativ geschätzt auf 1.650 Dollar. Diese Summe wäre niedriger, wenn man die unterschiedliche Kaufkraft berücksichtigt.

"Luftwaffe für Arme" ist weit weniger tödlich als behauptet

Die offizielle Begründung für die Produktion von "Präzisionswaffen" lautet, Geld in ihre Entwicklung zu investieren, um "Kollateralschäden" zu verringern. Der Abwurf einer lasergeleiteten GBU-12-Bombe durch eine F-16 "kostet" in etwa 34.000 US-Dollar, das Zünden einer Selbstmordbombe 1.650 US-Dollar. Mit anderen Worten, die angeblich größere Treffgenauigkeit wird durch höhere Ausgaben erkauft. Doch wieviel treffgenauer ist die GBU-12-Bombe wirklich? Es wäre plausibel, eine positive lineare Beziehung zwischen Treffgenauigkeit und Kosten der Bombe anzunehmen. Da die Kosten für die GBU-12-Bombe das 21fache der Selbstmordbombe betragen, wäre zu erwarten, daß sie 21mal so treffsicher ist.

Wenn wie oben dargelegt 65 Prozent der Opfer von Selbstmordanschlägen Afghanen sind, müssen 18,6 Afghanen sterben, um zehn US- oder Nato-Soldaten zu töten. Wäre die Präzisionsbombe 21mal so treffsicher, würde der Tod von zehn Taliban weniger als ein ziviles Opfer fordern (nämlich 18,6 geteilt durch 21 gleich 0,89). Aus dem verfügbaren Zahlenmaterial geht klar hervor, daß beim Abwurf von "Präzisionsbomben" auf Gebiete mit einer hohen Dichte an Zivilisten viele von ihnen getötet oder verletzt werden. Augenzeugenberichten zufolge kamen bei dem jüngsten Nato-Angriff auf den Panjwayi-Distrikt südwestlich von Kandahar für jeden getöteten Taliban drei afghanische Zivilisten ums Leben. Ähnliche Berichte kursieren über die Bombenangriffe auf Helmand während der vergangenen Monate, die relativ wenige Taliban, aber viele Zivilisten töteten. Bei einem Angriff auf eine Reihe von Dörfern nördlich von Tarin Kot in Uruzgan sollen zehn Zivilisten, aber nur vier oder fünf Taliban gestorben sein. Zudem korrespondiert ein steigender relativer Anteil von Präzisionsbomben an der Gesamtmenge aller Bombenabwürfe mit höheren Verlusten in der Zivilbevölkerung pro zehntausend Tonnen abgeworfener Bomben. Es läßt sich nicht bestreiten, daß US-/Nato-Luftangriffe auf isoliertere Lager der Taliban oder ihrer Verbündeten ohne zivile Todesopfer ausgehen. Ein solcher Vergleich ist jedoch unangemessen, da nur ähnliche Ausgangsbedingungen (Gebiete mit einer hohen Dichte an Zivilisten) als Grundlage dienen können.

Die Schlußfolgerung ist zwingend. Setzt man die jeweiligen Kosten als Statthalter für die Treffgenauigkeit der Bomben, dann fallen dem "Präzisionsbombardement" der US- und Nato-Truppen weit mehr afghanische Zivilisten zum Opfer als einem Attentäter der Taliban. Für Unschuldige erweist sich die "Luftwaffe für Arme" als viel weniger tödlich denn die der Reichen.

 

Prof. Dr. Marc Herold ist Ökonom und Politologe an der Universität von New Hampshire/USA. Er sammelt seit Beginn des US-Feldzuges in Afghanistan alle Informationen über zivile Opfer, die er im "AfghanDailyCount" veröffentlicht: http://pubpages.unh.edu/~mwherold 

Foto: Afghanisches Mädchen reitet über Friedhof: US-"Präzisionswaffen" sollen Kollateralschäden mindern


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