© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

Frisch gepresst

Totalitarismus. In der Gedenkpolitik zu den zwei das letzte Jahrhundert maßgeblich prägenden totalitären Regierungsformen - dem Kommunismus und dem Faschismus, oder präziser ihrer brutalsten Ausformung des stalinistischen und nationalsozialistischen Regimes - pflegt Europa zwei unterschiedliche Sprachen. Während die Aufarbeitung des letzteren seit 1945 zu einer politischen Maxime im Westen wurde, konnte das viele Jahrzehnte unter der ersten totalitären Geißel leidende Mittelosteuropa bis heute nur unvollständig der Aufarbeitung des Unrechts einen größeren Raum abgewinnen. Eine Implantierung seines Traumas in ein gesamteuropäisches Gedächtnis, wie es die damalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete 2004 als "Wiedervereinigung der Geschichte Europas" anmahnte, wurde bis heute nicht erreicht. Der Sammelband "Memento Gulag. Zum Gedenken an die Opfer totalitärer Regime" (Duncker & Humblot, Berlin 2006, 108 Seiten, broschiert, 34 Euro) kann dieses Spannungsverhältnis deutlich machen. Während die Beiträge von Markus Meckel, Friedbert Pflüger oder Norbert Lammert auf der gleichnamigen Berliner Tagung 2005 deutliches Unbehagen offenbaren, bei der Verurteilung beider Systeme das NS-Unrecht etwa zu "relativieren", lassen sich Herausgeber Renato Cristin oder sein Landsmann Dario Fertilio auf moralische Quantifizierungen nicht ein. Der im Tagungsnamen ausgedrückten Reflexion des Gulag-Unrechts werden jedoch am besten die Beiträge von Kalniete und dem sowjetischen Dissidenten Vladimir Bukowski gerecht.

Intellektuelle. Imponierende vierhundert Seiten benötigte ein Sonderband des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, um 2000 einen Forschungsüberblick über "Intellektuelle in Deutschland im 20. Jahrhundert" zu liefern: über Zeitgenossen, die der Intellektuelle Helmut Schelsky einst kurzerhand als "nutznießend herumdümpelndes Pack" abtat. Mittlerweile sind einige Jahre ins Land gegangen, und die unermüdliche Beschäftigung des "Packs" mit sich selbst wäre schon wieder reif für einen Forschungsbericht. Einzubeziehen wäre dann auch die von Ingrid Gilcher-Holtey edierte Aufsatzsammlung über "Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert" (Zwischen den Fronten. Akademie Verlag, Berlin 2006, 434 Seiten, gebunden, 49,80 Euro). "Europäisch" heißt in diesem von der EU-Kommission geförderten Werk im wesentlichen französisch und deutsch. Wir finden daher unter anderem einen Überblick zum Engagement katholischer Intellektueller in Frankreich zwischen 1880 und 1935, einen Beitrag über die "intellektuelle Einmischung" der feindlichen Brüder Mann in den Ideenkrieg von "14/18", natürlich eine Studie über die Intellektuellen-Soziologie des in diesen Wochen in Pariser Gazetten unter die "Antisemiten" eingereihten Pierre Bourdieu und, mit Blick auf die aktuellen Querelen im Hause Suhrkamp recht passend, eine Erinnerung an Siegfried Unseld als Verlagsstrategen im Kulturkampf von "1968".


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