© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/07 02. März 2007

Der Preis des Überlebens
Das vergessene Schicksal der Wolfskinder: Wie Kriegswaisen sich in Ostpreußen und Litauen durchkämpften
Anni Mursula

Es ist Ende März 1945 in Königsberg in Ostpreußen. Die Russen stürmen die Stadt, plündern und töten. In einem Keller versteckt, muß die achtjährige Christl Weintke zusehen, wie russische Soldaten ihre 13jährige Schwester und ihre Mutter mehrfach vergewaltigen. Mit Tausenden anderen werden die drei tagelang in den Straßen des brennenden Königsbergs wie eine Herde Tiere hin- und hergetrieben. Die Schwächsten sterben bereits nach wenigen Tagen vor Kälte, Hunger und Anstrengung – sie bleiben einfach am Straßenrand liegen.

Zwei Jahre lebt Christl mit ihrer Schwester und Mutter in einem Kellerloch. Während die Mutter bis spät in die Nacht für ein Stück Brot arbeitet, sucht Christl in den Ruinen oft vergebens nach Essen: Sie sammelt Brennesseln, Kartoffelschalen russischer Soldaten und die Proviantsdosen der in den Straßen liegenden Soldatenleichen. Aber das Essen reicht nicht aus: Christls Schwester ist bald vor Hunger und Krankheit so geschwächt, daß sie eines Morgens mit dem Totenwagen weggebracht wird. Daß sie überlebt und dem Massengrab in letzter Minute entgeht, wird Christl erst zwanzig Jahre später erfahren.

Auch ihre Mutter wird immer schwächer – sie kann sich nicht mehr um ihre Tochter kümmern. Deshalb vertraut sie das nun zehnjährige Mädchen einer Bekannten an. Sie soll Christl mit nach Litauen nehmen, wo es im Gegensatz zu Königsberg noch etwas zu essen geben soll. Christls Mutter stirbt nur wenige Tage nach dem Abschied. Die Frau nimmt das Mädchen zwar zum Betteln mit nach Litauen, schon bald aber setzt sie es bei Fremden aus, um ihre eigenen Überlebenschancen zu verbessern. Auf diesem Bauernhof in Litauen lebt Christl über zehn Jahre in nahezu sklavenähnlichen Verhältnissen – über zwanzig Jahre bleibt ihr das Schicksal der eigenen Familie verborgen.

Historiker vermuten bis zu 10.000 Wolfskinder

So beginnt die typische Geschichte eines „Wolfkindes“ – ein jahrzehntelang vergessenes Schicksal elternlos gewordener deutscher Kinder, die nach den Kriegswirren eigenständig um ihr Überleben kämpfen mußten. Wie viele Kinder ihre Eltern während der Flucht vor der Roten Armee verloren haben und ziellos, teils in Gruppen, durch Ostpreußen irrten, ist nicht bekannt. Einige Historiker nehmen jedoch an, daß es bis zu 10.000 gewesen sein könnten – davon etwa 5.000 in Litauen. Diese Wolfskinder sind nicht, wie oft mißverstanden, hilflose Menschenkinder, die wie Romulus und Remus von einer Wölfin in Obhut genommen wurden. Der Begriff Wolfskinder der Nachkriegszeit ist vielmehr an die Tatsache angelehnt, daß junge Wölfe sich auch ohne die Mutter und deren Fürsorge alleine durchkämpfen können.

Als die Rote Armee im Zangengriff zum Frischen Haff hin das Gebiet im Januar 1945 genommen hatte, wurde für etwa 200.000 Deutsche, denen das Entkommen über die Ostsee nicht gelungen war, jede Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. Wer die Strafmärsche und Übergriffe der ersten Wochen überlebte, fand sich zu einem Leben in Kellern und Verstecken verurteilt. Die extreme Nahrungsmittelknappheit, die bereits im Herbst 1945 herrschte, führte zu einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf um die einfachsten Dinge wie Beispiel Brennesseln und Abfälle. Viele der Mütter versuchten mit ihren Kindern über die Grenze nach Litauen zu gelangen, um dort zu betteln oder bei Bauern einfache Arbeiten zu verrichten.

Der Kampf, ihre Kinder durchzubringen, kostete viele Mütter oftmals das eigene Leben. Die meisten der zurückgebliebenen Waisen waren zum Sterben verurteilt. Diejenigen, die stark genug waren, um ihr Überleben zu kämpfen, versuchten über die 1945 noch intakte Eisenbahnlinie nach Kaunas in Litauen zu gelangen. Die Wolfskinder benutzten diese Bahnlinie trotz des Verbots der Russen – ein lebensgefährliches Unternehmen: Wurden sie erwischt, warfen die Russen sie einfach aus dem fahrenden Zug.

Viele der Wolfskinder schlugen sich in „Rudeln“ durch die litauischen Wälder, erbettelten Nahrungsmittel und arbeiteten auf Bauernhöfen. Überall lauerten Gefahren auf die „vokietukai“, die kleinen Deutschen, wie sie in der Landessprache genannt wurden: eisige Kälte und Hunger, im Wald Wölfe – auf den Straßen die Soldaten der Rote Armee.

Nur wenige hundert Kinder überlebten die schier unmenschlichen Strapazen. Einige, wie Christl Weintke, hatten das Glück, von litauischen und russischen Bauern aufgenommen zu werden. Dort wurden sie als Knechte und Mägde für schmale Kost und Logis gehalten und mußten hart arbeiten – aber sie überlebten. Wenige von ihnen erhielten eine Schulbildung: Die Arbeit auf den Bauernhöfen hatte Vorrang. Auch Christl erzählt, daß sie in ihrem Leben nur vier Monate zur Schule gegangen sei und deshalb erst als Erwachsene dürftig Lesen und Schreiben gelernt habe.

Aber nicht nur eine fehlende Ausbildung erschwerte vielen Kriegswaisen später die Suche nach ihren Wurzeln. Viel schlimmer noch: Die meisten von ihnen wußten überhaupt nicht mehr, wer sie waren oder woher sie ursprünglich kamen. Viele waren bei Kriegsende, als sie von ihren Eltern getrennt wurden, noch so klein, daß sie sich später nicht einmal an ihre deutschen Namen erinnern konnten. Das Vergessen ihrer Identität und Muttersprache war allerdings der Preis, den sie für das Überleben bezahlen mußten: So rigoros waren die Sowjetbehörden zeitweise bei der Verfolgung der Wolfskindern, daß sie nachts in die Bauernhäuser eindrangen und die Kinder weckten, um im schläfrigen Affekt Deutschsprechende zu erwischen. Deshalb übernahmen die Kinder schnell eine neue litauische, russische oder polnische Identität, unter der sie jahrzehntelang lebten, bis sie sich teilweise dessen gar nicht mehr bewußt waren. Andere, die beim Umherirren aufgegriffen wurden, landeten in sowjetischen Kinderheimen und kamen später in die DDR. Wenige Glückliche fanden später Verwandte in der Bundesrepublik, konnten mit Hilfe deutscher Behörden ihre Herkunft nachweisen und kehrten nach Deutschland zurück.

Bundesministerien lehnten jedwede Hilfe ab

Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden etwa zweihundert in Litauen lebende Wolfskinder bekannt, die 1991 in Vilnius die Organisation Edelweiß-Wolfskinder gründeten. Seitdem ist beinahe die Hälfte von ihnen altersbedingt gestorben. Die heute etwa Siebzigjährigen leben zumeist in sehr ärmlichen Verhältnissen. Aus diesem Grund ließ das Bundesinnenministerium bis 2005 jährlich Weihnachtspakete an die Hilfsbedürftigen schicken, was mit dem EU-Beitritt Litauens allerdings beendet wurde.

Infolgedessen beantragten die Wolfs­kinder soziale Unterstützung aus Deutschland – doch die zuständigen Bundesministerien lehnten jedwede Hilfe aus formalen Gründen ab. Sozialhilfe könne laut dem Ministerium für Arbeit und Soziales seit dem EU-Beitritt Litauens nicht mehr an die ehemaligen Flüchtlinge gezahlt werden. Schließlich gehe es den Deutschen dort nicht schlechter als den Litauern. Auch das Auswärtige Amt bekräftigte, „bei einem Verbleib in Litauen ist eine Gewährung von Sozialhilfe nicht möglich“. Nur wer einen ständigen Wohnsitz in Deutschland nachweisen kann, hat ein Anrecht auf eine kleine monatliche Rente. Doch viele der inzwischen alten und teilweise kranken Menschen können und wollen nicht mehr zurück. Die wenigen, die hierzulande noch Angehörige haben und Deutsch sprechen können, pendeln zwischen den beiden Ländern.

So auch Christl Weintke. Nachdem das Ehepaar, das sie als Kind aufgenommen hatte, verstorben war und sie endlich über ihr eigenes Leben bestimmen konnte, heiratete sie einen Litauer und gründete mit ihm eine Familie. Doch die Erinnerung an ihre ursprüngliche Familie ließ sie nicht los. Sie wußte zwar, daß die Mutter tot war, und auch von dem Tod der Schwester war sie überzeugt, hatte aber noch Hoffnung, ihren in den Krieg gezogenen Vater am Leben zu finden. Schließlich ließ sie 1967 einen Brief an die Suchstelle des Roten Kreuz schreiben. Nur zehn Tage danach erhielt sie Antwort: Seit zwanzig Jahren lag dort bereits eine Suchanfrage ihres Vaters vor. Von ihm erfuhr sie, daß ihre Schwester noch lebte. Ein Besuch ihrer Familie in Deutschland verzögerte sich wegen der Bürokratie des Sowjetstaates jedoch um Jahre: Schließlich starb ihr Vater, bevor sie ihn persönlich wiedersehen konnte. Erst 1970 durfte sie nach Deutschland reisen. Bei diesem Besuch konnte sie ihre Schwester endlich nach 23 Jahren wieder in die Arme schließen.

Foto: Das Wolfskind Waltraud Liedke (Amber Bongard) in „Die Kinder der Flucht“ (ZDF): Nur wenige überlebten die unmenschlichen Strapazen

Kontakt: www.wolfskinder-geschichtsverein.de


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