© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/07 09. März 2007

Der Westfälische Friede als ewiger Maßstab
Der Marburger Historiker Sven Externbrink über die Grundlagen französischer Deutschlandpolitik im 18. Jahrhundert
Dag Krienen

Ende 1757 wurde im wieder einmal kriegsgeplagten Deutschland ein Spottvers populär: "Und kommt der große Friedrich und klopft nur einmal auf die Hosen, schon läuft die ganze Reichsarmee, Panduren und Franzosen!" Er spielte auf die Schlacht von Roßbach vom 5. November 1757 an, wo Friedrich der Große eine hauptsächlich aus Franzosen und Reichstruppen - österreichische Panduren spielten keine große Rolle - bestehende Koalitionsarmee so deutlich besiegen konnte, daß sich Preußen in jenem Krieg, der als Siebenjähriger (1756-1763) in die deutsche Geschichte einging, von Westen her keiner ernsthafte Bedrohung mehr ausgesetzt sehen sollte.

In dem Spottvers spielte neben der Häme über die schmähliche Flucht der einst im Reich so gefürchteten französischen Truppen auch die Verwunderung über die Koalition eine Rolle, die sich kurz zuvor gegen den preußischen König gebildet hatte. Die im Mai 1756 durch den Versailler Vertrag geschlossene Allianz zwischen Paris und Wien stellte angesichts der bis dato bestehenden 250jährigen Erbfeindschaft zwischen den Häusern Bourbon und Habsburg eine "diplomatische Revolution" dar, die eine Grundkonstante der europäischen Mächtebeziehungen auf den Kopf stellte.

Bis zu diesem Zeitpunkt konnten alle Staaten und auch die kleinen Fürsten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation davon ausgehen, daß Frankreich in Mitteleuropa bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine eigene Machtstellung zu Lasten Habsburgs und des Reiches auszudehnen und jede Machterweiterung des Wiener Kaiserhauses mit allen Mitteln zu verhindern bestrebt war. Noch in dem 1748 beendeten Erbfolgekrieg hatte Österreich im Bündnis mit Großbritannien gegen das mit Preußen und Bayern koalierende Frankreich kämpfen müssen. Die "diplomatische Revolution" von 1756, die "renversement des alliances", führte dazu, daß nun Preußen und England miteinander im Bunde standen, während sich auf der anderen Seite an der von Österreich und Frankreich angestrengten Reichsexekution gegen den preußischen König auch eine Reihe von kleineren Reichsfürsten beteiligten - die "Reichsarmee" - und sich auch Schweden und Rußland gegen ihn wandten, so daß Preußen von 1756 bis 1763 einen Kampf um seine Existenz führen mußte.

Der Klappentext zum Buch des Marburger Frühneuzeithistorikers Sven Externbrink kündigt an, daß nun "erstmals seit über einem halben Jahrhundert wieder eine aus den Quellen geschöpfte Darstellung der französischen Deutschlandpolitik in der Epoche des Siebenjährigen Krieges" vorliege, eine Arbeit, welche "die lange von nationalistischen Urteilen geprägte Forschung grundlegend korrigiert". Diese vom Verlag zu verantwortende Werbung stapelt allerdings hoch. Das Buch stellt die Druckfassung von Externbrinks Habilitationsschrift über das "Deutschlandbild der französischen Diplomatie im Siebenjährigen Krieg. Perzeption und Entscheidungsprozeß in der Außenpolitik Frankreichs (1755-1763)" dar, die "nur" die Wahrnehmung des Alten Reiches und der wichtigsten beiden deutschen Mächte durch die französische Diplomatie analysiert und beschreibt - das heißt durch den diplomatisch-außenpolitischen Apparat im Sinne der führenden Beamten im Außenministerium und der Gesandten an den wichtigsten deutschen Höfen. Es handelt sich also um eine zwar sehr gediegene historische Spezialstudie im Sinne einer Analyse der perzeptionellen Voraussetzungen von Außenpolitik, aber um keine Gesamtdarstellung der französischen Deutschlandpolitik in dieser Epoche.

Ihr läßt sich allerdings nicht nur entnehmen, daß der französische außenpolitische Apparat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Lage war, präzise Informationen über die Verhältnisse in Deutschland zu liefern. Sie weist auch nach, daß die diplomatische Revolution von 1756 nicht bloß ein Ergebnis der Intrigen einer Mätresse oder eine Kurzschlußreaktion auf die Westminster-Konvention zwischen Preußen und England vom Januar des Jahres war. Auch wenn die Initiative zu dem Bündnis zwischen Paris und Wien ursprünglich vom österreichischen Staatskanzler Wenzel Anton Graf Kaunitz ausging, war diese doch nur deshalb erfolgreich, weil auch auf französischer Seite ein von Diplomaten formuliertes und von Ludwig XV. akzeptiertes neues Konzept der maßgeblichen französischen Ziele in Deutschland vorlag.

Neu war in diesem Konzept allerdings nur die Bestimmung des aktuellen Feindes, nicht die Definition des wichtigsten französischen Interesses in Deutschland: die Aufrechterhaltung der 1648 durch den Westfälischen Frieden geschaffenen Ordnung des Alten Reiches, die dessen Schwäche festschrieb und Frankreich die Stellung eines Protektors der "Libertät", das heißt der gegenüber dem Kaiser nahezu unabhängigen Stellung der deutschen Reichstände verschaffte.

Geändert hatte sich auf französischer Seite allerdings seit den Tagen Ludwigs XIV. die Hauptstoßrichtung der Machtexpansion. Hatte dieser die französische Stellung im Reich noch zur massiven Ausdehnung auf dessen Kosten mißbraucht, besaß um 1750 nicht mehr die Ausdehnung der kontinentalen Grenzen Frankreichs Priorität, sondern die der kommerziell-kolonialen. Entsprechend war nun nicht mehr der vom Haus Habsburg gestellte Kaiser in Wien, sondern die britische Seemacht Frankreichs Hauptrivale. An der Ostgrenze nach dem Erwerb Lothringens zunächst saturiert, wünschte die französische Diplomatie sich den Rücken für den seit 1755 wieder schwelenden Kolonialkrieg in Nordamerika und Indien frei zu halten. Als Wien deutliche Zeichen abgab, daß es seinerseits nicht mehr daran dachte, den Status von 1648 im Reich ernsthaft in Frage zu stellen, war der Weg frei zur Defensivallianz vom Mai 1756, die aus französischer Perspektive die Ruhe im kontinentalen Hinterhof während des anstehenden Weltkrieges gegen die Briten sichern sollte.

Hier war in französischen Diplomatenaugen nicht mehr Habsburg, sondern Preußen der potentielle Störfaktor, der durch das Bündnis mit Wien kaltgestellt werden sollte. Friedrich hielt allerdings nicht wie erhofft still, sondern führte gegen die drohende Einkreisung einen Präventivschlag und leitete damit einen parallelen Krieg auf dem Kontinent ein. Militärisch agierte Frankreich sowohl in dem hauptsächlich in Nordamerika und der Karibik ausgetragenen Kolonialkrieg mit England als auch dem Kontinentalkrieg mit Preußen wenig glücklich, an seinem Bündnis mit Österreich hielt es aber trotz mancher Differenzen eisern fest, und zwar über den Krieg hinaus und entgegen der öffentlichen Meinung im eigenen Land bis zum Ausbruch der Revolution. Das fortdauernde gemeinsame Interesse an der Konservierung des Alten Reiches in der Form von 1648 bildete seine Basis.

Externbrink läßt an einigen Stellen durchblicken, daß er die auf dieser Basis betriebene Deutschlandpolitik Frankreichs für konstruktiv, weil friedenssichernd hielt. Er teilt damit offensichtlich eine in der Frühneuzeitgeschichte schon seit längerem zu beobachtende Tendenz zur Idealisierung des Alten Reiches nach 1648, das nicht mehr als staatsrechtliches "Monstrum", sondern als ein friedfertiger Schutzverband vielfältiger putziger kleiner Staatsgebilde verstanden wird, die vor den Machtgelüsten der großen Fische effektiv geschützt waren. Ob es für einen deutschen Untertan wirklich so schön war, wenn er beispielsweise auf dem Weg vom Bodensee nach Ulm die Gebiete von zwei Dutzend verschiedener Landesherren passieren mußte, kann man streiten. Das Problem an solchen Idyllen ist vielmehr, daß sie nur unter der Protektion von großen Haifischen existieren können, die sich schon rund und satt gefressen haben und neue hungrige Artgenossen, die zu Konkurrenten emporwachsen könnten, nicht dulden wollen. Frankreich, im Besitz sicherer Grenzen und als anerkannter Schiedsrichter im Reich und im kontinentalen Europa, war Mitte des 18. Jahrhunderts in diesem Teich ein solcher satter Hai. Auch das sollte sich übrigens Ende des Jahrhunderts noch einmal ändern, als die Royal Navy diesem Hai den Zugang zu überseeischen Fischgründen verwehrte und er sich zum großen Fressen wieder nach Europa zurückwandte. Daß unter diesen Umständen das dynamische Preußen Friedrichs des Großen in den Augen der französischen Diplomatie als "Störenfried" der für Frankreich schließlich sehr bequemen deutschen Verhältnisse aufgefaßt wurde und der König selbst zum unverantwortlichen und unberechenbaren "Völkerrechtsbrecher" mutierte, ist wenig verwunderlich. Vergleichbare Urteile haben zu allen Zeiten immer schon die jeweiligen "saturierten" Mächte gefällt und ein "Ende der Geschichte" zu einem ihnen vorteilhaften Zeitpunkt herbeigewünscht, sei es nun 1648, 1756, 1815, 1918, 1945 oder auch 1990. Vergeblich!

Sven Externbrink: Friedrich der Große, Maria Theresia und das Alte Reich. Deutschlandbild und Diplomatie Frankreichs im Siebenjährigen Krieg. Akademie Verlag, Berlin 2006, gebunden, 418 Seiten, 69,80 Euro

Foto: "Eröffnung des Balles, den die europäischen Mächte im großen Saale Deutschland abgehalten haben". Satirisches Blatt von 1742 auf den österreichischen Erbfolgekrieg: Die Aufrechterhaltung der 1648 geschaffenen Ordnung war oberstes französisches Interesse


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