© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

"Mut gegen den Zeitgeist"
Sie gilt als Nestor der Meinungsforschung. Im Herbst erhielt sie den Gerhard-Löwenthal-Preis für ihr Lebenswerk
Moritz Schwarz

Frau Professor Noelle-Neumann, Sie haben im Dezember den Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis für Journalisten der JUNGEN FREIHEIT für Ihr Lebenswerk erhalten. Für viele war der bekannte Fernsehjournalist Löwenthal eine politische Unperson.

Noelle-Neumann: Ich habe Gerhard Löwenthal immer als einen aufrichtigen Freund, guten Journalisten und sehr anregenden Gesprächspartner empfunden. Er ist in der Öffentlichkeit von denen, die ihn ablehnten, als starrsinnig, von den ihm freundlich gesonnenen Menschen als standhaft wahrgenommen worden. Aber es ist wenig bekannt, wie kreativ und originell er sein konnte. Zur Bundestagswahl 1969 haben wir gemeinsam die erste deutsche Panel-Befragung von Wählern auf den Weg gebracht. Dabei wurden im Verlauf des Wahlkampfs dieselben Personen immer wieder interviewt, so daß wir ihre Entscheidungsfindung nachvollziehen konnten. Das Ganze wurde dann in einer Sendereihe und einem Buch mit dem Titel "Wählermeinung - nicht geheim" dokumentiert. Daran hat Gerhard Löwenthal einen wesentlichen Anteil. Hier hat er sich als sozialwissenschaftlicher Pionier erwiesen.

Löwenthal galt vielen als "Rechter". Traf diese Zuschreibung zu? Wie entstand dieser Eindruck?

Noelle-Neumann: Ich habe Gerhard Löwenthal immer als einen unbeirrten Verfechter von Freiheit und Menschenrechten, der Demokratie und der deutschen Einheit empfunden, der von seinen Überzeugungen auch gegen den stärksten Druck des Zeitgeistes nicht abwich. John Locke hat geschrieben, nicht einer unter zehntausend sei so stark, daß er in einer Welt leben könnte, in der ihm seine Mitmenschen ständig mit Mißbilligung begegnen. Die wenigen, die wie Gerhard Löwenthal doch diese Stärke aufbringen, leben natürlich unter einem fast unerträglichen Druck der öffentlichen Meinung, die bestrebt ist, sie zum Schweigen zu bringen. Man mag das beklagen, aber diese Mechanismen gibt es in jeder Gesellschaft.

Sie haben im letzten Herbst Ihr autobiographisches Buch "Die Erinnerungen" vorgelegt. Am 29. Dezember sind Sie neunzig Jahre alt geworden. Ihr Leben ist mit dem Lauf des wechselvollen 20. Jahrhunderts dicht verwoben. Welche Rolle spielt die deutsche Geschichte, wenn Sie heute zurückblicken, emotional für Sie?

Noelle-Neumann: Ich glaube, jemand, der ein solches Leben gelebt hat wie ich, kann nur aufs engste mit der Geschichte verbunden sein. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist für Deutschland eine Katastrophe gewesen, die noch lange nachwirken wird. Dennoch ist es schön, zurückzublicken und einen so langen Zeitraum aus eigener Erfahrung überblicken zu können. Es ist, als könnte man mit seinen Erinnerungen in der Geschichte spazierengehen.

Im letzten Sommer wurde in Deutschland der Patriotismus "neu entdeckt". Sind Sie eine Patriotin?

Noelle-Neumann: Ich halte die Begeisterung bei der Fußball-Weltmeisterschaft nicht für eine neue Entwicklung, sondern für den Ausdruck einer Veränderung, die bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist und die bei der Gelegenheit der Weltmeisterschaft nur besonders deutlich erkennbar wurde. Es hat den Anschein, als verlören die Deutschen allmählich doch etwas von dem Schwermut und den Selbstzweifeln, die sie über Jahrzehnte geprägt hatten.

Sie schreiben, Deutschland brauche für die Bewältigung der Zeit des Nationalsozialismus noch Jahrzehnte.

Noelle-Neumann: Der in Glasgow lehrende Sozialwissenschaftler Richard Rose hat einmal gesagt, ein Volk brauche 150 Jahre, um die psychologischen Folgen eines verlorenen Krieges zu überwinden. Nun gilt das sicherlich nicht für kleinere regionale Kriege, aber sicherlich für die großen nationalen Katastrophen. Die Folgen des Dreißigjährigen Krieges, der neben dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg die wohl schlimmste Katastrophe in der deutschen Geschichte war, sind teilweise bis heute zu spüren. Viele Schüler wissen heute nicht mehr, wann der Dreißigjährige Krieg stattfand, aber das Lied "Maikäfer flieg" kennen sie alle. Die Schockwellen des Dritten Reiches werden das Land ähnlich lange begleiten.

Deutschland befindet sich seit Jahren in einer tiefen Strukturkrise. Der Publizist Seba- stian Haffner sprach einmal von den "sieben Todsünden des Deutschen Reichs". Wenn Sie zurückblicken, könnten Sie die "sieben Todsünden" der Bundesrepublik Deutschland benennen?

Noelle-Neumann: Ich weiß nicht, ob es sieben "Todsünden" der Bundesrepublik Deutschland gibt. Sorge macht mir, daß der Staat unter dem Vorwand der sozialen Fürsorge die Bürger mehr und mehr in ihrer Entscheidungsfreiheit einengt, bei jeder Gelegenheit gängelt und mit Vorschriften, Abgaben und Verboten überzieht. Damit lähmt man die Energie der Menschen. Unsere Glücksforschung zeigt ganz eindeutig, daß nicht umfassende soziale Absicherung glücklich macht, sondern die Möglichkeit, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.

1980 veröffentlichten Sie die Studie "Die Schweigespirale". Sie haben das als Wissenschaftlerin getan. Haben Sie aber als Staatsbürgerin oder Mensch dies auch mit einer gewissen Hoffnung verbunden?

Noelle-Neumann: Die Schweigespirale beschreibt, wie Menschen bei kontroversen, moralisch geladenen Themen durch unbewußte sozialpsychologische Mechanismen den öffentlichen Konsens herstellen, der notwendig ist, um entscheidungsfähig zu sein. Die Mechanismen, die ich dort beschreibe, sind in jeder Gesellschaft vorhanden, es gibt sie wahrscheinlich, seit es überhaupt Menschen gibt, die in größeren Gruppen zusammenleben. Nicht alles, was die Theorie der Schweigespirale beschreibt, mag einem gefallen, doch es ist zutiefst menschlich. Sozialwissenschaftler versuchen zu verstehen, wie eine Gesellschaft funktioniert - oder auch, warum eine Gesellschaft nicht funktioniert. Eine moralische Wertung ist damit nicht verbunden. Wer die Gesellschaft verändern will, darf nicht in die Wissenschaft gehen, sondern er muß Politiker werden. Und der Versuch, die Menschen zu verändern, ist ohnehin günstigstenfalls unsinnig.

Sie haben einmal gesagt: "Die Schweigespirale verträgt sich gut mit der Demokratie". Wir verbinden heute mit der Demokratie Werte wie Meinungsfreiheit, Bürgerstolz, Konsensfähigkeit, Toleranz, Bürger und Volk als wahrer Souverän. All diese Vorstellungen werden von der sozialen Wirkungsweise der Schweigespirale unterminiert. Was meinen Sie also, wenn Sie eine Verträglichkeit konstatieren?

Noelle-Neumann: Eine funktionierende Demokratie darf nicht auf Illusionen gegründet sein. Es hat keinen Sinn anzunehmen, es sei möglich, demokratische Entscheidungen allein auf sachlich-rationale Kriterien zu stützen, die soziale Natur des Menschen spielt bei jeder öffentlichen Diskussion mit. Im übrigen erscheint mir nicht plausibel, warum die soziale Natur des Menschen, seine Vorsicht, mit der er sein Umfeld beobachtet und sich zum Reden oder Schweigen entscheidet, je nachdem, ob er den Eindruck hat, sich mit seiner Position zu isolieren, nicht mit den genannten demokratischen Prinzipien vereinbar sein soll. Mit Bürgerstolz steht sie in keinerlei Widerspruch, Meinungsfreiheit ist die Voraussetzung dafür, daß Prozesse wie die Schweigespirale erst in aller Öffentlichkeit stattfinden können (in Zeiten der Diktatur finden sie unterhalb der Oberfläche der offiziellen Propaganda statt), und für Konsensfähigkeit ist die soziale Natur des Menschen einschließlich des Phänomens der Schweigespirale erst die Voraussetzung. Allenfalls der Wert der Toleranz kann in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Schweigespirale stehen. Doch auch sie hat in der Theorie der Schweigespirale ihren Platz. Ohne sie hätten die Avantgardisten, die dem Druck der öffentlichen Meinung widerstehen und dadurch das Meinungsklima ändern können, keine Chance.

Aber das demokratische Ideal, das wir heute jungen Menschen vermitteln, wird doch deutlich von der Schweigespirale konterkariert. Meinen Sie nicht, daß es zu zunehmendem Verdruß über die Demokratie kommen kann, wenn sich die postulierten Ideale immer weiter von der sozialen Wirklichkeit entfernen?

Noelle-Neumann: Es wird nur konterkariert, wenn wir annehmen, die Demokratie müsse die soziale Natur des Menschen leugnen. Meiner Ansicht nach muß sie das aber nicht.

Sie haben außerdem festgestellt, daß die Schweigespirale eine Überlagerung der Meinung der Mehrheit durch die öffentliche Meinung bewirken kann. Wenn aber die Meinung der Mehrheit nicht zum Ausdruck kommt, ist dann nicht die Demokratie im Prinzip ad absurdum geführt?

Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung findet ihre Grenzen in Zeit und Raum. Kein Prozeß der Schweigespirale hält ewig an. Es spricht auch wenig dafür, daß die Fälle, in denen die öffentliche Meinung einer schweigenden Mehrheit entgegensteht, zahlreich sind. Eigentlich tritt dies nur auf, wenn der Medientenor gegen die Mehrheitsmeinung gerichtet ist. Über einen längeren Zeitraum läßt sich aber ein solcher Druck der öffentlichen Meinung gegen die Bevölkerungsmehrheit nur in ganz bestimmten Sonderfällen aufrechterhalten, etwa bei Themen, bei denen eine offene Diskussion den Zusammenhalt der Gesellschaft ernsthaft gefährden würde. Übrigens zeigt der Umstand, daß es solche Fälle gibt, in denen die öffentliche Meinung gegen die Meinung der Mehrheit steht, warum es wichtig ist, daß Wahlen geheim sind.

Die Massenmobilisierung im Namen politischer Ziele in der Vergangenheit wird heute als gefährlich betrachtet. Wie aber sind heutige Massenmobilisierungen wie etwa der "Kampf gegen Rechts" zu beurteilen? Loten Sie dieses Phänomen bitte einmal mit dem Instrumentarium der Schweigespirale aus!

Noelle-Neumann: Man muß Schlagworte, die als Mittel der politischen Auseinandersetzung gebraucht werden, gedanklich von den großen ideologischen Massenbewegungen trennen. Der große Wissenschaftler und Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat betont, daß das Gefährliche, Verführerische an den großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts der kollektivistische Grundgedanke war; der Gedanke, das Individuum zähle letztlich nichts und müsse sich in den Dienst des höheren Ziels des Kollektivs stellen. Hayek hat gezeigt, daß dieser Grundgedanke fast zwangsläufig in despotische Strukturen und die Unterdrückung der Menschen führt. Nur wenn man dem Einzelnen soviel Spielraum wie möglich läßt, seine eigenen Ziele zu verfolgen, führt das zu einer Entwicklung, die letztlich auch das Gemeinwesen gedeihen läßt.

Das Wort "Zivilcourage" steht heute hoch im Kurs. Man identifiziert es mit dem Widerstand gegen Hitler und den Nationalsozialismus, als Zivilcourage gleichbedeutend war mit sozialer Isolation und Schlimmerem. Heute sichert "Zivilcourage" eher soziale Zuwendung (Einladung ins Fernsehen, Auszeichnung durch Politiker und Prominente, positive Presse- und Medienberichterstattung etc.).

Noelle-Neumann: Zivilcourage hat, wer sich, wie etwa Gerhard Löwenthal, dem Zeitgeist entgegenstellt und auch gegen die Mißbilligung durch seine Umwelt in anständiger Art und Weise für seine als richtig erkannten Ziele eintritt. Dazu gehört ungeheurer Mut.

In der "multikulturellen Gesellschaft" tauchen plötzlich neue, bisher unbekannte Faktoren auf: Parallelgesellschaften, alternative Sozialkomplexe mit eigener Wertehierarchie, Rückkopplung an Werte- und Kommunikationssystem der Herkunftsländer der Einwanderer statt Ausrichtung auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft etc. Wie wird das die Entwicklung der öffentlichen Meinung in unserer Gesellschaft verändern?

Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung erreicht im Prinzip jeden, der Mitglied einer Gesellschaft ist, gleich, welche Rolle er in ihr einnimmt. Bei den oft zitierten "Parallelgesellschaften" handelt es sich letztlich um zahlenmäßig sehr kleine Gruppen, die sich vollkommen von der übrigen Gesellschaft abschließen. Sie kann man am ehesten mit der Rolle derjenigen vergleichen, die ich in dem Buch "Schweigespirale" die "Ketzer" genannt habe: kleine, in sich abgeschlossene Gruppen, die sich dem Konsens der Gesellschaft bewußt widersetzen und die ihre innere Stärke daraus beziehen, daß sie sich gegenseitig bestärken. So etwas gibt es in der einen oder anderen Form in jeder Art von Gesellschaft. Das Prinzip der öffentlichen Meinung ist davon unberührt.

Vor Beginn des Dritten Reiches und teilweise auch noch in der frühen Bundesrepublik spiegelten Parteien noch unterschiedliche Weltbilder/Weltanschauungen wider. Heute unterscheiden sich unsere Parteien praktisch nicht mehr durch weltanschaulichen Wettbewerb, sondern vor allem durch unterschiedliche praktische Lösungsansätze für politische Probleme. Sehen Sie eine Gefahr in dieser Vereinheitlichung der politischen Meinung in allen "großen Fragen"?

Noelle-Neumann: Ich glaube nicht, daß die Parteien in dieser Weise austauschbar geworden sind. SPD und CDU/CSU unterscheiden sich nach wie vor erheblich in ihrer politischen Kultur und ihrer politischen Grundausrichtung. Das gilt auch für die Anhängerschaften dieser Parteien. Die kulturellen und inhaltlichen Gegensätze der beiden Volksparteien sind in der Großen Koalition nicht so deutlich sichtbar wie in den Jahren zuvor, weil beide Seiten gezwungen sind, aufeinander zuzugehen. Doch nach dem Ende der Koalition werden sie wieder in aller Deutlichkeit hervortreten. Ganz klar erscheint mir auch das Profil der FDP zu sein, die sich im deutlichen Gegensatz zur sozialstaatlichen Orientierung der Volksparteien befindet. Auch wenn der Ton der Auseinandersetzung vielleicht nicht mehr so scharf ist wie früher, so trennen die Parteien doch in vielerlei Hinsicht noch immer weltanschauliche Gräben.

 

Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann Die Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) gilt als Begründerin der modernen Meinungsforschung in Deutschland. 1916 in Berlin geboren, studierte sie Geschichte, Philosophie, Zeitungswissenschaften und Amerikanistik in Deutschland und den USA. 1947 gründete sie mit dem IfD das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut. Ab 1961 lehrte sie Publizistik an der Freien Universität Berlin. 1964 folgte die Berufung an die Universität Mainz, wo sie bis 1983 das von ihr aufgebaute Institut für Publizistik leitete. 1978 wurde sie feste Mitarbeiterin der FAZ für Demoskopieanalysen. 1980 Veröffentlichung des Standardwerks "Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut". Im Herbst 2006 legte sie unter dem Titel "Die Erinnerungen" im Herbig-Verlag ihren Lebensrückblick vor.

Gerhard-Löwenthal-Preis wird seit 2004 für konservative Nachwuchs-Journalisten und als Ehrenpreis für das Lebenswerk verliehen. Kontakt und Informationen: www.gerhard-loewenthal-preis.de

 

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