© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/07 23. März 2007

Unglücksgefühlsglück
Zum 80. Geburtstag: Eckhard Henscheid würdigt Martin Walser als großen Frauenschriftsteller
Eckhard Henscheid

Als Frauenromane, exemplarische Frauenromane auf hohem und höchstem Niveau, gelten seit undenklichen Zeiten Tolstois "Anna Karenina", Flauberts "Madame Bovary", Fontanes "Effi Briest" oder wahlweise seine "Irrungen, Wirrungen", also insgesamt einheitlich und einmütig 19. Jahrhundert - dazu gesellt sich allenfalls hin und wieder D. H. Lawrence' "Lady Chatterley" von 1928, der aber gleichzeitig und mehr noch als Leitparadigma zumindest episch befreiter Erotik gilt. Wird mit schon einiger Gewalt ein deutscher Frauenroman des vergangenen Jahrhunderts und zumal der fünfzig letzten Jahre gesucht, dann kommt man ganz eventuell noch auf zwei Titel von Peter Handke und halbwegs halben Herzens auf ein, zwei Exempel von Marlen Haushofer und Brigitte Kronauer.

Es geht auf der Welt nicht allzu gerecht zu; nicht einmal für den insgesamt doch ziemlich mit Fortune gesegneten, im goethischen Sinne durchaus glückhaften Romancier Martin Walser. Denn als Frauenromanautor ging er jedenfalls bisher am wenigsten in die deutsche oder gar Weltliteratur ein. Zu Unrecht. Denn mit "Der Lebenslauf der Liebe" hat er im Jahr 2001 ein ragendes Beispiel vorgelegt, eines der besten des speziellen Genres überhaupt, nämlich mit seiner facettenreichen, anteilnahmeheischenden, rührenden, großartigen Protagonistin Susi Gern.

Der Roman gehört zu den für Wal-sersche Verhältnisse beim Publikum weniger erfolgreichen, auch bei der Kritik minder ästimierten; kein Vergleich zu dem allzu maßlos und umgekehrt unverdient endlosen Erfolg etwa des 1978 erschienenen Schmalromans bzw. der Novelle "Ein fliehendes Pferd". Mag sein, daß der Autor da, 2001, immer noch die unkontrollierbar gewordenen Folgen seiner Paulskirchenrede von 1998 zu spüren bekam, die alles in allem unverdiente, ja sinnlose Reaktion auf seine Metapher von der "Auschwitzkeule" etcetera. Auch manche anderen Bücher Walsers, die man eingeschränkt als Frauenromane bezeichnen könnte, waren ungleich mehr vom Breitenerfolg heimgesucht: etwa der Kurzroman "Ohne einander" von 1996 mit der im guten Sinn sehr zeitgenössisch anmutenden Heldin Ellen.

Die Frau mit dem schon penetrant ominösen und gleichzeitig eben wie zufällig so heißenden Namen Susi Gern überragt aber wohl alle Wal­serschen Frauengestalten an Fülle, Differenziertheit, Torheit, einnehmender Wärme und Überraschungskraft, in summa: Menschlichkeit. In gewisser Weise ist Susi Gern nur ein weibliches Stehaufmännchen, eine aktuell-akute Version von Hans im Glück.

Denn je mehr die ursprünglich steinreiche Düsseldorfer Ehefrau und Mutter von ihren Überschüssen und Potenzen einbüßt - zu Beginn des Romans möchte sie mit einem Sportwagen beerdigt werden -, unglücklich ist sie eigentlich deshalb trotzdem nicht; obschon ihre Ehe mit einem zuerst großmächtigen, dann an allerlei dubiosen Geschäften scheiternden und siechen und schließlich sterbenden Mann, einem notorischen, immerhin darin auch nicht ganz widerwärtigen Fremdgänger, von Mal zu Mal das reine Unglück scheint - und eine behinderte Tochter komplettiert die Malaisen noch.

Aber es ist Susis Lebensthema wie das des Romans eine rare - vielleicht rheinisch-düsseldorfische - Unbelehrbarkeit des Gefühls; oder positiv mit einem zentralen Romanzitat: "Ich liebe doch wieder mal wie noch nie."

Seltsam, im Lauf der Lektüre empfindet man diese Ambivalenz bzw. Gleichzeitigkeit von Glück und Unglück als attraktiv, ja so richtig toll, wie Susi es findet. Dabei geht Walser oft an die Grenzen des uns an geschmacklichen Zumutungen Aufbürdbaren. Aber das Interesse an dieser Frau in mittleren Jahren, das ihr Autor auf spätestens Seite 50 hergestellt hat, es geht auch über die gesamten 500 Seiten nicht verloren, hält uns manchmal wie mit Stricken gefangen.

Walsers eigenes Interesse - so erzählt er gerne, und die Sache ging damals auch durch die Medien - wurde geweckt durch eine wirkliche Susi Gern, die dem Autor jahrelang ihre Leidens- und Wirrwarrbiographie vortrug und diese tatsächlich auch literarisch gebannt wissen wollte. Daß es in der Folge eben darüber Streit gab, ist das eine; das andere, daß das Authentische, dem Leben Abgekupferte, abermals, wie schon bei Effi Briest und Emma Bovary, offenbar doch seine literarischen Vorzüge hat.

Daß der Romanautor Martin Walser mit den 525 Seiten "Der Lebenslauf der Liebe" einen der besten nicht nur deutschen Frauenromane des Jahrhunderts geschrieben hat, sich aber fast im gleichen Augenblick von einer ziemlich mächtigen und zudem romanhaft schillernden Frau trennen mußte, seiner Verlegerin oder zumindest Verlagsbesitzerin, die ihrerseits als Autorin alles andere als tragfähige Frauenromane zuwege gebracht hat: Diese Pointe hat übers Ulkige und die anteilnehmende literarische Öffentlichkeit sehr Unterhaltende hinaus auch etwas halbwegs Tragisches - innerhalb der sonst nicht einmal tragikomischen und ja noch immer nicht abgeschlossenen Seifenoper rund um den Untergang des Hauses Suhrkamp-Unseld.

Und das fast Tragische west auch umgekehrt. Denn ein so großer Esel war, manchen Gerüchten zuwider, der bald nach Walsers Roman verstorbene Siegfried Unseld ja keineswegs, als daß er die ihn jahrzehntelang begleitenden und sozusagen immergrünen intellektuellen und epischen Qualitäten des Lieblingsautors Walsers zu erfassen und zu würdigen nicht in der Lage gewesen wäre - vermutlich hat oder, sofern er schon zu krank dazu war, hätte ihm der tapfere und buntscheckige und schwer anrührende Lebenslauf der Susi Gern sogar besonders eingeleuchtet.

Aber es hat wohl so sein müssen. Jener, der - und daraus macht er selber mitnichten ein Geheimnis - wie sein Verleger schon fast im Übermaß an realen und reellen Frauen interessiert war und mit diesem auch in mancherlei diesbezügliche Tauschgeschäfte verwickelt; der Verlagsautor Walser, der in seinen Büchern selten rege Frauenneugier vermissen ließ: Es sollte, werweiß mußte an jener Verleger-Zweitheirat scheitern, die er - auch das kein Geheimnis - ab ovo mit einem gewissen vielleicht sogar eifersüchtigen Spott begleitete.

Fast ein Wunder, daß ihn, Walser, dabei nicht das Gerücht einer Geheimliaison mit der Ex-Schauspielerin einholte. Sondern das betraf dann doch mehr den von jener gleichfalls zur Persona non grata erklärten Stiefsohn. Aber das alles ist nun im Kontext der nachkriegsdeutschen Verlagsgeschlechtsbeziehungsgeschichte, um mit einem anderen bekannten Frauenroman zu reden, ein vielleicht doch schon gar zu weites Feld.

 

Eckhard Henscheid, Jahrgang 1941, ist Mitbegründer der "Neuen Frankfurter Schule" und lebt als Schriftsteller in der Oberpfalz. Die Gesamtausgabe seiner Werke ist in acht Bänden bei Zweitausendeins erschienen.

 

Martin Walser

Am 24. März 1924 wird Martin Walser als zweites von drei Kindern in Wasserburg am Bodensee geboren. Nach Wehrdienst und amerikanischer Kriegsgefangenschaft studiert er ab 1946 Literatur, Geschichte und Philosophie in Regensburg und Tübingen; 1951 Promotion über Franz Kafka. Bereits während des Studiums arbeitet er von 1949 bis 1957 als Reporter und Hörspielautor für den Süddeutschen Rundfunk. 1955 debütiert er als Erzähler mit dem Band "Ein Flugzeug über dem Haus". Seit 1957 lebt Walser als freier Schriftsteller am Bodensee. 1981 erhält er den Georg-Büchner-Preis. 1988 erregt er bei linken Intellektuellen und Journalisten Aufsehen mit seinem Bekenntnis, sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden zu können. 1998 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede kritisiert Walser die "Instrumentalisierung von Auschwitz zu gegenwärtigen Zwecken". Daraufhin entbrennt eine scharfe Kontroverse mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland und eine monatelange Debatte in allen Feuilletons.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Ehen in Philippsburg" (1957), "Halbzeit" (1960), "Ein fliehendes Pferd" (1978), "Brandung" (1985), "Die Verteidigung der Kindheit" (1991), "Ohne einander" (1993), "Finks Krieg" (1996), "Ein springender Brunnen" (1998), "Der Lebenslauf der Liebe" (2001), "Tod eines Kritikers" (2002, bereits vor seinem Erscheinen mißverstanden skandalisiert), "Der Augenblick der Liebe" (2004). Soeben erschienen ist der Gedichtband "Das geschundene Tier".


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