© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Ein Begriff macht Karriere
Debatte: Der Publizist Albrecht von Lucke sagt das baldige Ende der "Neuen Bürgerlichkeit" vorraus / "Neue Mitte" als Vorläufer
Ekkehard Schultz

In den vergangenen Jahren spielte innerhalb der politischen Debatten und im Mediendiskurs der Begriff der "Neuen Bürgerlichkeit" eine wichtige Rolle. Was verbirgt bzw. verbarg sich hinter diesem Terminus? Wie wird heute im Rückblick seine Entstehungs- und Wandlungsgeschichte speziell im linksliberalen Lager interpretiert?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Diskussionsveranstaltung mit dem Journalisten Albrecht von Lucke, Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik, in der vergangenen Woche bei der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam.

Lucke wies darauf hin, daß die Ursprünge der "Neuen Bürgerlichkeit" in dem während des Bundestagswahlkampfes 1998 von Gerhard Schröder häufig verwendeten Begriff der "Neuen Mitte" zu suchen seien. Dieses Konstrukt wurde von den Sozialdemokraten eingesetzt, um Befürchtungen bürgerlicher Wähler vor einer rot-grünen Koalition zu zerstreuen und den Eindruck einer reinen "Links"-Regierung möglichst zu vermeiden. Doch bereits wenige Monate nach dem Wahlerfolg von SPD und Grünen hatte der Begriff bereits wieder seinen Höhepunkt überschritten. Rasch verschwand er aus Politik und Medien und wich dem Terminus "Neue Bürgerlichkeit", sagte Lucke.

Unter die von der ersten Schröder-Regierung vertretene "Neue Bürgerlichkeit" fielen unter anderem die Zielsetzungen, der "Ökologie einen höheren Stellenwert" einzuräumen, die "Wirtschaft stärker auf Nachhaltigkeit auszurichten", eine "andere Unternehmenskultur" einzuführen sowie "mehr Selbstbewußtsein auf internationalem Parkett" zu demonstrieren; oder - wie es in zusammengefaßter Form hieß - sich den "Widersprüchen der Moderne offensiv zu stellen".

Die Inhalte haben sich schnell verändert

Doch innerhalb weniger Jahre kam es nun zu einer deutlichen Begriffstransformation. Als im Jahr 2003 die Schröder-Regierung ihre "Agenda 2010" verkündete, wurde mit "Neuer Bürgerlichkeit" etwas anderes verbunden. So habe etwa ein Leitartikel des Spiegel damit das Einhalten von Regeln und die Debatte um Tugenden, Werte und Rituale verknüpft, was in Diskussionen um die Einführung einer Schuluniform oder der steigenden Nachfrage nach Benimm-Kursen zum Ausdruck kam.

Dies sei eine nachvollziehbare Reaktion auf die wirtschaftliche Krise und die wachsende Arbeitslosigkeit gewesen: Nun wurde in den Medien breit darüber diskutiert, daß der Sozialstaat in Deutschland an seine Grenzen gekommen sei und es dringender Reformen und Einschnitte für die Bürger bedürfe.

Grundsätzlich habe dieser Trend bereits mit den Anschlägen vom 11. September 2001 eingesetzt. Kurz darauf sei vom Fernsehjournalisten Peter Hahne medienwirksam das "Ende der Spaßgesellschaft" verkündet worden. Danach folgte die Rentenfrage sowie die Erörterungen, ob in naher Zukunft die Deutschen aussterben würden.

Spätestens 2004 sei dann die Begriffshoheit über die "Neue Bürgerlichkeit" endgültig in den Händen des konservativen Lagers gewesen, so der Referent. "Pamphlete" wie Frank Schirrmachers "Das Methusalem-Komplott", Paul Noltes "Die Generation Reform" und Paul Kirchhofs "Gesetz der Hybris. Gebt den Bürgern den Staat zurück" - "alles Produkte aus dem Nach-Achtundsechziger- bzw. Anti-Achtundsechziger-Lager" - belegten diese Stoßrichtung.

"Im Umfeld der fünfziger Jahre"

Die Gipfelpunkt wurde nach Luckes Interpretation mit Eva Hermans "Das Eva-Prinzip" erreicht. Doch gegen dieses "antifeministische Werk" sei "schon aus ästhetischen Gründen der Widerstand zu stark" gewesen, so daß es gesellschaftlich nur begrenzten Einfluß erlangt hätte.

Damit war nach seiner Auffassung die "Neue Bürgerlichkeit" endgültig "im Umfeld der fünfziger Jahre", von "Kinder/Küche/Kirche" und der Grundthese angekommen, daß es in erster Linie an den Anstrengungen und Willen jedes Einzelnen läge, sich durch Fleiß, Ordnung und Disziplin in der heutigen Arbeitswelt zu behaupten.

Deren Protagonisten blendeten jedoch vollkommen aus, daß sich mit der Globalisierung die Situation innerhalb Deutschlands deutlich von jener der fünfziger Jahre unterscheide, sagte Lucke. Durch den Wegfall vieler Arbeitsplätze in das kostengünstigere Ausland sei es immer weniger Bürgern möglich, sich ohne staatliche Unterstützungen zu behaupten.

Interessanterweise habe jedoch die derzeit regierende Große Koalition ihre Politik geradezu auf das Gegenteil des letzten Inhalts der "Neue Bürgerlichkeit" ausgerichtet. Denn die von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) vertretenen Grundsätze stünden konträr Zielen wie Rückzug des Staates und Stärkung der Eigenverantwortung gegenüber, vielmehr werde durch sie die Einflußnahme des Staates noch weiter vergrößert. So sei beispielsweise das Kinderkrippenmodell nach Ansicht Luckes eng an alte DDR-Vorbilder angelehnt.

Damit dürfte in Kürze auch der Begriff der "Neuen Bürgerlichkeit" endgültig ausgedient haben, prophezeite Lucke.


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