© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Die Götter gehen auf Dienstreise
Klöster öffnen ihre Schatzkammern: Die gefeierte Tibet-Ausstellung ist jetzt in Berlin zu sehen
Wolfgang Saur

Mit breitem Medienecho öffnete kürzlich im Asiatischen Museum in Berlin-Dahlem jene Tibet-Ausstellung, die schon 2006 an ihrem ersten Ort, der Villa Hügel in Essen, als Kulturereignis gerühmt und als Markstein der Museumsgeschichte und Orientalistik qualifiziert wurde. Sie zog dort in gut drei Monaten 200.000 Besucher an. Die Resonanz wird verständlich, ist dies doch die erste Tibet-Schau, die Kunstschätze und religiöse Objekte aus dem geheimnisvollen Land selber präsentiert. Die Tibet-Ausstellungen der vergangenen Jahrzehnte dagegen holten ihre Exponate aus westlichen Museen oder Privatbesitz.

Naturgemäß konnte Tibet, früher dem Ausland verschlossen, seit 1950 von den Chinesen ruiniert, kein Leihgeber sein. Daß es nun erstmals diese Rolle wahrnimmt, gilt als Sensation. 150 kostbare Objekte hat es für Deutschland freigegeben. Sie kommen aus dem Potala-Palast in Lhasa, aus der ehemaligen Sommerresidenz des Dalai Lama, Norbulingka, und aus den tibetischen Klöstern.

Daß es solche noch (wieder) gibt, sorgt für einigen Wirbel. So hatten in der Planungsphase 2003/04 Tibetologen das Projekt als unrealistisch verworfen, schließlich verfüge Tibet heute weder über Kunstschätze noch über ein religiöses Leben. Daß das Projekt doch zustande kam, rief Verwunderung und auch massiven Protest hervor. Der wiederholt sich, nach Essen, jetzt in Berlin. So kann sich die esoterische Tibetschau ihres politischen Schattens nicht erwehren. Obwohl - oder weil - sie sich ganz unpolitisch zeigt. Das wiederum provozierte deutsche Tibet-Organisationen zum Vorwurf, es handle sich um eine "unerträgliche Ausblendung historischer Wahrheit".

Tatsächlich konzentriert sich das Museumsereignis auf die Innenwelt der religiösen Tradition und abstrahiert vom historischen Kontext. Den bietet zwar die Chronik im Katalog - der jedoch mit dem Jahr 1940 abrupt abbricht und über die folgenden Ereignisse kein einziges Wort verliert. Ebensowenig entdeckt man zu Okkupation, Plünderung, Tod im Textteil des Riesenwerks (der eine akademische Sensation für sich darstellt). Die Verantwortlichen machten sich mit ihrem historischen Gedächtnis und ihrer politischen Verantwortung unsichtbar und quittierten Nachfragen mit Schweigen.

Der Hintergrund ist indes klar. Die offiziell Zuständigen für das 1950 okkupierte, seit 1965 teilautonome Tibet ließen sich auf das Unternehmen der Kulturstiftung Ruhr nur unter der Bedingung politischer Enthaltsamkeit ein. Das schloß den Verantwortlichen hierzulande den Mund und ließ sie für den Katalog den Weg einer konsequenten Verwissenschaftlichung einschlagen.

Die Kuratorin der Schau, Jeong-hee Lee-Kalisch, verantwortlich für die Abteilung Ostasien am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin, hat damit auch einen dicken Etappensieg für ihr Ressort, die FU und die deutsche Ostasienkunde errungen. Die luzide Herausgeberin führt den sechs Kilogramm schweren Katalog an, den ein Team internationaler Kollegen zu einem Monument der Tibetologie machte: systematisches Handbuch im ersten, akribische Werkanalyse im zweiten Teil.

Eine magere Kompensation für das politisch-moralische Beschweigen, wird man sagen. Nun, nicht so ganz. Zwar geben sich Ausstellung und Katalog hermetisch und dichten sich gegen jede Aktualität ab, doch die behandelten Themen entfalten sie desto freier, breiter, offener. So ist in größtem Umfang die Rede von "heiligen Schriften", "mönchischen Einrichtungen", "Pilgerreisen", von "tantrischen Ritualen", dem "Mandala", den religiösen Herrschern Tibets, bis hin zu "Weihegegenständen" und "Tempelbehängen". Sämtlich Gegenstände also, die der Kommunismus als "Verblendung" und "Priesterbetrug" verflucht, dann zerstört hat.

Tibet besaß 6.000 Klöster, 20 Prozent der Bevölkerung lebten monastisch. Die wurde nun verfolgt, die Klöster demoliert. Man spricht von 1,2 Millionen getöteten Opfern, die dem Lautsprechergeplärre der maoistischen Propaganda weichen mußten. Wenn deshalb die chinesischen Machthaber heute überhaupt zulassen, daß tibetische Identität sich ungehindert im Ausland darstellen kann - mit Beschweigen des Leides zwar, doch religiös selbstbewußt -, ist das ein klarer Fortschritt.

In Tibet lebten 20 Prozent der Menschen monastisch

Das bestätigt diskret die Verantwortliche Lee-Kalisch, die von den Skrupeln der westlichen Delegation vor Ort erzählt, Kunst- und Ritualobjekte aus kultischem Gebrauch für die Dauer der Ausstellung zu entleihen. Doch hat der Ausblick auf deutsche Museumsgaffer die Geistlichen offenbar wenig erschreckt, gelassen versicherten sie der Berliner Orientalistin, es sei gut: Ihre Götter begäben sich eben "auf Dienstreise". Zudem könnten diese eine Mission befördern: vom Buddhismus und der tibetischen Kultur zu künden. In diesem unscheinbaren Votum liegt die eigentliche Brisanz und eine versteckte Kritik der Kritiker. Solch subtile Hinweise der Aussteller lassen sich mithin als Kommentar zum politischen Streit lesen, als Entscheid der Betroffenen selbst, der den polemischen Hinweis auf die willkommene Imagepflege der Chinesen an zweite Stelle rückt.

Die Ausstellung selbst wird ihrem Titel voll gerecht. Ästhetisch hat sie den Schatzkammereffekt des alten Museums für Indische Kunst der museologischen Dramaturgie zugrunde gelegt: abgedunkelte Räume präsentieren kalkuliert ausgeleuchtete, meist freistehende Vitrinen. Das zeigt dem Betrachter Ferne auch als Geheimnis. Lichtführung unterstützt die Konzentration. Übernommen aus Essen hat man das Farbprogramm. So entfalten sich die Themen im Medium tibetisch-buddhistischer Farbsymbolik: weiß, blau, gelb, rot, grün. Das entspricht den fünf Buddha-Familien, den Farben Tibets, den Himmelsrichtungen und Zugängen zum kosmischen Mandala-Palast. Als Lehrgang nun vollzieht der Besucher das Schema einer meditativen Umrundung des Göttlichen nach.

Ihn empfängt ein feierlicher Tempelraum, in dem zehn lebensgroße, golden gefaßte "Lamdre-Meister" im Lotossitz auf Podesten ein riesiges, zentrales Transparent der tanzenden Gottheit umrunden, vor deren Ikone altargleich Opferschalen die stille Devotion ausdrücken. Die Erleuchteten repräsentieren eines der acht großen Meditationssysteme und bevölkern in Tibet den großen Kultraum des Klosters Mindröl Ling.

Der Ausstellungsverlauf gliedert sich nun nach den buddhistischen "sechs Zufluchten", den "äußeren" und "inneren". Die beziehen sich auf den Buddha als Erwachten, die Lehre, das Dharma, und die Gemeinde, dann auf den Lama als Lehrmeister, die Meditationsgottheit und die Schutzgötter. Es schließen sich an: die Sektion des Mandala (gelb), die Darstellung der tibetischen Theokratie, der religiösen Herrschaft und monastischen Einrichtungen (rot) und schließlich die traditionelle Heilkunst (grün).

Aufmerksamkeit zieht ein Gemälde von 1940 auf sich: Es zeigt Sinmo, ein dämonisches Urwesen, hingestreckt im Umriß der tibetischen Geographie - eine mythische Verkörperung des Landes. Legenden berichten aus dem 7. Jahrhundert, als Buddha nach Tibet kam, daß neu errichtete Tempel stets einbrachen, bis die Könige ihre Neubauten geomantisch planten. Seher beschrieben das Land als einen auf dem Rücken liegenden Dämon, dessen Toben alle Kulturarbeit ruinierte. Es galt nun, Tempel im Punkt seines Herzens zu bauen, weitere an Füßen und Armen. So wurde der Dämon "fixiert". Die religiöse Durchdringung Tibets kam also der Kosmisierung einer amorphen Urmaterie gleich. Sie erst machte das Land zur "Welt", zum bewohnbaren Lebensraum.

Zeitlich schließt das Bild die Reihe der 150 Objekte ab, die mit einer Bronzestatuette aus dem Jahr 473 anhebt. Für den Besucher ist die von den Wissenschaftlern akribisch erarbeitete Schau nicht ganz leicht verdaulich. Der tibetische Buddhismus ist eine Sonderform und hat seine eigene Geschichte, die von der autochthonen Bön-Religion ausging. So hat man mit einem speziellen Pantheon von Göttern, Geistern, Bodhisattvas zu rechen, einem exotischen Panorama nicht nur erhabener Meditation und innerer Abgeklärtheit, sondern auch von Fratzen, wilden Furien, erschreckenden Masken. All dieses belegt die Ausstellung, und ihre verwirrende Vielfalt der Motive und Formen hält Experten und Neugierige auf Trab.

Die Schau wirft Glanz aufs Dahlemer Museumsquartier

Dazu kommen sakrale Bauformen wie Tempel und Stupa, Prachthandschriften im charakteristischen Pothi-Format, Rollbilder, Musikinstrumente, Preziosen des Dalai Lama wie Krönungsornat und höfisches Reitzeug, liturgisches Gerät wie Altarschreine, Schalen, Szepter und Glocke, die für sich schon ganze Symbolprogramme umfassen, dann zahlreiche Mandalas.

Mandalas: Kreise, Weltdarstellungen, Psychogramme, magische Zirkel können ganz verschieden gestaltet sein, als Malerei, Streusand, Gebäude, Tempel- und Stadtanlage, Gold- oder Edelsteinfigur. Davon zeigt die Ausstellung ein besonders kostbares Stück: ein chinesisches Lotosmandala der Ming-Dynastie aus dem 15. Jahrhundert. Sein üppig-feingliedriger Sockel aus Ranken, Figuren, Ornamenten stützt eine vollplastische, aufklappbare Dolde, deren Inneres noch einmal einen ganzen Götterreigen enthüllt. Sie kann geschlossen sein oder geöffnet erscheinen, die absolute Essenz verhüllen oder offenbaren. Das panasiatische System des Mandala chiffriert die Vorstellung von Schöpfung und Erlösung, die Entfaltung des Lebens und seine Rückkehr zum absoluten Grund. Desintegration und Fokussierung sind existentielle Paradigmen auch für den Menschen, der psychologisch sich den geometrischen Formen assimiliert.

Bleibt zu hoffen, daß die Schau ein ähnlicher Publikumserfolg wird wie in Essen. Die Besucherzahlen in Dahlem sind anhaltend trostlos, so ergreifen die Museen die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hinzu kommt, daß das alte, 1906 begründete Ostasienmuseum 1945 einen Totalverlust erlitt. Die rote Armee transportierte mehr als 5.400 kostbare Objekte ab. Mit nur 300 Stücken mußte man neu beginnen. Die aktuelle Ausstellung wirft deshalb einen Glanz aufs Westberliner Museumsquartier, der diesem seit hundert Jahren höchst verdient zukommt.

Die Ausstellung "Tibet - Klöster öffnen ihre Schatzkammern" ist bis zum 28. Mai im Berliner Museum für Asiatische Kunst, Lansstraße 8, täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, Sa./So. ab 11 Uhr, zu sehen. Der Katalog mit 664 Seiten und 440 Abbildungen kostet 30 Euro. Internet: www.smb.museum/tibet 

Bild: Dragpa Gyaltshen (1147-1216), fünfter Thronhalter von Sakya, Zentraltibet, 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts


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