© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/07 30. März 2007

Auf der Suche nach Analogien
Ein Sammelband über den Krieg an der Ostfront 1914-1918 sucht frühe Anknüpfungen an Hitlers "Vernichtungskrieg"
Felix Krautkrämer

In der Geschichtsforschung zum Ersten Weltkrieg dominieren bis heute die Feldzüge im Westen mit ihren vernichtenden Materialschlachten, der hohen technisierten Kriegführung und den zermürbenden Stellungskriegen. Untersuchungen, die sich auf den Krieg im Osten konzentrierten, sind dagegen eher die Ausnahme. Und wenn, dann stammen sie meist von Historikern des linken Lagers, die - in einer Manie, den Beginn eines "deutschen Vernichtungskriegs im Osten" zeitlich möglichst früh zu verorten - die Wiege des Reichskommissariats Ostland im Ostkrieg des Ersten Weltkrieges sehen. Insgesamt weist die Historiographie in bezug auf den Ersten Weltkrieg jedoch noch immer erhebliche Forschungslücken auf.

Diesem Umstand nahm sich das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) an, als es 2004 eine Tagung zum Thema "Die vergessene Front - der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung" veranstaltete (JF 25/04). Nun liegen die Ergebnisse in einem gleichnamigen, vom MGFA herausgebrachten Buch vor. Es ist zugleich der erste Band der neuen MGFA-Reihe "Zeitalter der Weltkriege". Thematisch ist das Buch in drei Teile gegliedert: Kampfhandlungen, Kriegserfahrungen und Kriegswirklichkeit sowie die Gedenkkultur des Ersten Weltkriegs.

Auffallend sind vor allem die zahlreichen neuen Forschungs- und Untersuchungsansätze zur Thematik des Ostkriegs. Zum Beispiel Günther Kronenbitters Aufsatz "Von 'Schweinehunden' und 'Waffenbrüdern'. Der Koalitionskrieg der Mittelmächte 1914/15 zwischen Sachzwang und Ressentiments". Hier zeigt sich, unter welchen zum Teil erheblichen gegenseitigen Abneigungen die deutsch-österreichische Koalition litt. So bezeichnete Erich Ludendorff als Generalstabschef der 8. Armee die Österreicher im Herbst 1914 unverblümt als "Scheißkerls". Und Generalmajor Max Hoffmann vom Generalstab der 9. Armee schrieb im Oktober 1914 an seine Frau: "Die Schufte, die Österreicher, haben sich bei Rowno mal wieder von den Russen verhauen lassen. (...) Die Schweinehunde reißen einfach aus." Im Grunde genommen sah man im österreichischen Bundesgefährten nur eine "bessere Miliz", die der "dauernden Stützung" bedurfte und "obendrein auf Gleichberechtigung" pochte. Aber auch auf österreichischer Seite gab es Antipathien. Vor allem beim österreichisch-ungarischen Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf: Glaubt man dem österreichischen Delegierten im deutschen Großen Hauptquartier, Josef Graf Stürkh, waren von Hötzendorfs Gefühle gegenüber den deutschen Waffenbrüdern "im innersten Herzen feindselig".

Ein weiterer Aufsatz behandelt das Deutschenbild in der russischen Propaganda. Hubertus F. Jahn verdeutlicht in "Die Germanen. Perzeptionen des Kriegsgegners in Rußland zwischen Selbst- und Feinbild", wie unter dem "Einfluß panslawischen Gedankengutes" das Schlagwort vom "deutschen Drang nach Osten" und das Bild von Deutschland als "Inbegriff von Militarismus" entstand.

Jahn beschreibt ausführlich die hierfür verwendeten russischen Propagandamittel. Zum Beispiel einen der ersten russischen Zeichentrickfilme: "Die Lilie Belgiens". Darin wird eine "weißblühende, von Schmetterlingen im Sonnenlicht umtanzte Lilie" von Maßkrüge schwenkenden Hirschkäfern zerstört, "die in düsteren Erdlöchern unter Wurzeln leben". Ihr Anführer, ein Käfer mit einem besonders großen, "an einen Wikingerhelm gemahnenden Geweih", ist kaum verkennbar Kaiser Wilhelm II. Auf diesen "vom Blut berauschten" Kaiser konzentrierte sich nach Jahn die russische Propaganda mit Masse.

Eher enttäuschend und weniger originell ist dagegen der Beitrag Hew Strachans. Seine Untersuchung zum Einfluß der Geopolitik auf die deutsche Militärelite bis zum Zweiten Weltkrieg liefert außer den altbekannten Klischees vom "Blankoscheck" und den "an der Zivilbevölkerung in Belgien und Nordfrankreich verübten Greueltaten" nichts Neues. Sie kommt daher über erkenntnisarme Schlußfolgerungen nicht hinaus: "Deutschland mußte einen kurzen Krieg führen, da es offenbar einen langen nicht durchhalten konnte."

Ebenso der US-Litauer Vejas Gabriel Liulevicius. In "Von 'Ober Ost' nach 'Ostland'?" versucht er in gewohnter - wenn auch gegenüber seinem bei Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung veröffentlichten Werk "Kriegland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg" (JF 33/04) etwas abgeschwächter - Form, zwanghaft eine Kontinuität zwischen dem Ostfeldzug bis 1918 und dem "Fall Barbarossa" 1941 zu konstruieren. Liulevicius gesteht zwar ein, daß sich der "gezielte Massenmord der Nazis" qualitativ von der "ethnischen Manipulation oder der Germanisierung" von Ober Ost unterscheide, jedoch sei die "Bevölkerungspolitik" des Reichskommissariats Ostland eine Weiterentwicklung der Ideen von Ober Ost.

Erfreulicherweise relativiert Jörg Baberowski diese auf dünnster Quellenlage basierende These mit deutlichen Worten: "Im Ersten Weltkrieg wurden nicht die Strategien und die Untaten des Zweiten Weltkrieges vorbereitet. Der Deutsche Soldat war kein Rassist." Und während in deutschem Gewahrsam "nicht mehr als fünf Prozent aller Gefangenen" starben, kamen "mehr als zwanzig Prozent der gefangenen Soldaten der Mittelmächte in russischen Lagern ums Leben".

Trotz dieser klaren Position durchzieht leider ein Argumentationsmuster nahezu alle Beiträge: Das Verhalten der Deutschen im Ostkrieg 1914/15 war nur korrekt in Relation zu dem, was hinterher kam. Gebetsmühlenartig betont beinahe jeder Autor die "Verbrechen der Wehrmacht" im "Vernichtungskrieg 1941/44" - und das in einem Buch über den Ersten Weltkrieg. Hier kann das MGFA dann doch nicht über seinen eigenen Schatten springen. Schließlich trägt man die maßgebliche Verantwortung für Reemtsmas überarbeitete Wehrmachtsausstellung.

Gerhard Gross (Hrsg.): Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006, gebunden, 414 Seiten, Abbildungen, 38 Euro

Foto: Deutsche Soldaten verteilen Essen an Kinder, Wilna 1915: Zwanghafte Kontinuitätenbildung


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