© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

Machtspiele in Kiew
Ukraine: Präsident Juschtschenko erläßt Dekret zur Parlamentsauflösung / Regierungsmehrheit ruft Verfassungsgericht an
Wolfgang Seiffert

Natürlich handelt es sich bei den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen dem Präsidenten und der Mehrheit des ukrainischen Parlaments um einen echten Machtkampf. Doch manches deutet darauf hin, daß beide Seiten bald zu normalen Verhältnissen zurückkehren wollen. Insbesondere Viktor Juschtschenko erweckt den Eindruck, als folge er auch dem Druck seiner früheren Mitstreiterin, der jetzigen Oppositionsführerin Julia Timoschenko (JF 49/06).

Das begann schon mit der Begründung für sein Dekret über die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen im Mai. Er argumentierte darin, eine Regierungskoalition könne nur aus Abgeordnetenfraktionen, nicht aber aus Fraktionen und einzelnen Abgeordneten gebildet werden. Offenbar meint Juschtschenko hier den Übertritt von elf Abgeordneten anderer Parteien zur Regierungskoalition. Er befürchtet offenbar, daß es noch mehr werden könnten und die von Premier Viktor Janukowitsch geführte Koalition dann im Parlament über eine verfassungsändernde Mehrheit verfügen könnte (JF 33/06).

Doch diese Begründung kritisiert allenfalls eine unzulässige Formierung einer Parlamentsmehrheit, gegen die man das Verfassungsgericht anrufen kann, nicht aber ein gewähltes Parlament auseinderjagen darf. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Parlamentsauflösung nicht nur von Juschtschenkos Gegnern, sondern auch im Ausland als Staatsstreich betrachtet wird. Daß die russische Duma das Dekret "verfassungswidrig" nannte, überrascht nicht. Aber auch in der EU gibt es erhebliche Zweifel an Juschtschenko Vorgehen. Denn er kündigte sein Dekret zunächst erst mit dem Hinweis an, er werde seine Entscheidung nur dann amtlich machen, wenn das Parlament weiterhin "verfassungswidrig" handle. Schließlich setzte er das Dekret doch in Kraft - obwohl die Koalition von Janukowitsch die elf "Überläufer" wieder aus ihren Reihen ausschloß.

Nach einem Gespräch zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem Kiewer Amtkollegen am Karfreitag hieß es, beide Seiten bekundeten ihr Interesse "an einer schnellstmöglichen Normalisierung der Lage". Wenn Juschtschenko dennoch am gleichen Tag in einer Fernsehansprache aus Kiew erklärte, seine Entscheidung sei "legitim und verfassungsgemäß" und es werde kein Zurück geben, aber gleichzeitig jede Gewaltanwendung ablehnte, so kann man dies nur als Reaktion auf die Parlamentsmehrheit verstehe, die sich der Auflösung widersetzt und das Verfassungsgericht angerufen hat.

Dessen Präsident fühlte sich unter Druck gesetzt - er kündigte seinen Rücktritt an. Den lehnten die anderen Richter ab. Wenn das oberste Gericht die Klage zur Entscheidung annimmt, wird es vielleicht zu dem Schluß kommen, daß die Verfassung die Möglichkeit einer Parlamentsmehrheit auch mit einzelnen Abgeordneten zwar nicht zuläßt, eine solche Rechtsverletzung allein dem Präsidenten aber kein Recht zur Auflösung des Parlaments gibt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Kieler Instituts für osteuropäisches Recht. Bis 2002 lehrte er an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.


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