© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/07 13. April 2007

ARD-Themenwoche: "Kinder sind Zukunft" - und das blubbernde Leben
Publizistisches Großereignis
(JF)

Deutschland sei kein Kinderzukunftsland: Wenig Zeit für den eigenen Nachwuchs, unzureichende frühkindliche Betreuungsmöglichkeiten und hohe Armutsgefährdung in den Stadtstaaten, so orakelt die kürzlich veröffentlichte Unicef-Studie zur Kinderfreundlichkeit in unserem Land. Die ARD will nun ihre Scheinwerfer aufs Thema "Kinder" fokussieren.

Kein leichtes Unterfangen, wenn man beobachtet, wie eine sichtlich übermüdete Mutter am Leipziger Hauptbahnhof eine Fahrkarte kaufen will. Das Kind, auf der Höhe seiner Kräfte, langweilt sich zu Tode und beginnt munter, Gegenstände aus dem Kinderwagen zu werfen: Lutscher, Pizza, Mützen. Die Mutter hängt mit dem einen Ohr am Mobiltelefon, mit dem anderen am Fahrkartenschalter - die Schlange ist lang. Die aufwendig frisierte Frau mit ihren Plateauschuhen macht keinen Anstand sich zu bücken und scheint "Drecksgöre ..." zu denken, der ältere Herr und die Jugend rühren sich auch nicht, genaugenommen: niemand - nur das Kind rührt sich permanent.

Kinder sind schwerer zu hüten als eine Horde Ochsen

Wer Astrid Lindgrens Kinderbücher gelesen hat, bekommt bestens veranschaulicht, daß Kinder schwerer zu hüten sind als eine Horde Ochsen. So sagt jedenfalls der Papa des kleinen Michel aus Lönneberga. Michel treibt eigentlich fast nur Unfug: er blamiert seine Eltern vor dem Pfarrer, zieht seine Schwester Ida an der Fahnenstange hoch und zerschlägt alle Eier, um vorsorglich zu gucken, ob eins vielleicht faul sein könnte. "Sie können einem leid tun, die Svenssons auf Katthult, daß sie einen solchen Lausejungen zum Sohn haben!" sagen die Nachbarn, "aus dem wird nie was", und stecken seinen Eltern sogar Geld zu, damit sie ihren Lümmel nach Amerika verschicken können. "Aber eigentlich ist er netter, kleiner Junge", resümiert seine Mutter abends in ihrem blauen Schreibheft.

"Kinder sind Zukunft", meint dann auch die ARD, und deren Vorsitzender Fritz Raff verkündet stolz: "Die ARD bündelt ihre Kräfte und zeigt, ganz im Sinne des gewählten Themas, wozu eine 'Familie', die zusammensteht, fähig ist." Auch Peter Voß, Intendant des Südwestrundfunks, spricht begeistert von einem "publizistischen Großereignis".

In sieben Tagen erschuf bekanntlich Gott die Welt: Licht, Festland, fruchtbaren Boden, Leben und Nahrung. Ob es der ARD gelingt, in sieben Tagen die Erschaffung dieser Zukunft für Kinder in Deutschland anzustoßen, können wir alle vom 14. bis 21. April in der ARD-Themenwoche verfolgen. Handelte die erste Themenwoche 2006 über das "Todesthema" Krebs, folgt nun das "Lebensthema" par Exempel. Und es wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Entsprechend sind in den Programmen der ARD und der kooperierten Kanäle arte, 3sat, Phoenix und Kinderkanal 864 Fernsehbeiträge mit einer Gesamtsendelänge von 566 Stunden geplant. Damit übertrifft das Programmvolumen der "Kinder"- das der "Krebs"-Woche um mehr als das Dreifache.

Schirmherr ist Bundespräsident Horst Köhler, Paten der Moderator Jörg Pilawa, die Schauspielerin Maria Furtwängler ("Die Flucht") und Tagesthemensprecher Tom Buhrow - selbstverständlich alles Eltern, wie könnte's auch anders sein. "Zu einem kinderfreundlichen Klima können auch die Medien einen wichtigen Beitrag leisten", betont Köhler , "deshalb freue ich mich, daß die ARD nun verstärkt den Blick auf die junge Generation in Deutschland lenken will."

"Verstärkt" ist gut. Was hat die öffentlich-rechtliche ARD bisher dafür getan? Telenovela-Stürme, wohin das Auge streift ("Rote Rosen" oder "Türkisch für Anfänger") - eine abstumpfende Illustration der Jugendprobleme anhand der Frage: "Wer hat nun eigentlich mit wem geschlafen?"

Jeder Tag unter einem besonderen Leitsatz über Kinder

Plötzlich werden in der ARD also wieder an Tiefe reiche Kinderfilme gezeigt ("Und wieder spring ich über Pfützen"), die einem jungen Menschen mehr bieten als nur "Erklärbär-Potential" (Ernie & Bert, Käpt'n Blaubär, Tigerentenclub). Das ist auch im sogenannten Kinderkanal nicht selbstverständlich, denn dort lallen die Teletubbies in der Gegend herum - der Bildungsanspruch ist merklich gesunken. Nun wird endlich wieder über Bildung im Sinne eines "Hinein-Bildens" berichtet (zum Beispiel in Musik: "Rhythm is it!" oder Geschichte: "Au revoir les enfants"). Daneben zielt die Kamera auf die vielen Schattenseiten heutiger Kindheit: Verrohung von Elternhäusern, Bildungsdefizite, Armut und Autoritätsverlust.

Die ARD hat sich viel vorgenommen. Vor allem, wenn man weiß, daß Kindererziehung Kraft und Muße kostet. Doch bleibt sie unbenommen dasjenige, worüber hinaus Größeres und Bleibenderes nicht gedacht werden kann: damit sich in aller Flexibilität und Schnellebigkeit des Alltags kein diffuses Gefühl von Sinnlosigkeit breitmacht; damit jeder seine Kinder und die Kinder seines Nächsten zu schätzen weiß, sich nach dem herausgeschleuderten Spielzeug bückt, gar das Quengeln im Zug erduldet. Die ARD sendet jedenfalls die Gewißheit aus, daß Kinder die höchste menschliche Kostbarkeit sind und noch dazu das blubbernde Leben.

Foto: Das Erste in der Vorreiterrolle: Nicht kleckern, sondern klotzen


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