© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Kolumne
Pawlow und die Reflexe der gerontischen Gesellschaft
Herbert Ammon

Es kam, wie's kommen mußte: Die Trauerfeier geriet zum Ritual bundesrepublikanischer Zivilreligion - halb Tragödie, halb Farce. Als erster springt Ralph Giordano auf die Bühne, sodann entrüstet sich die Zentralinstanz deutscher Moral, Claudia Roth. Letzte Meldung: Gottesdienst in St. Hedwig abgesagt. Wäre die Funktionsweise der Pawlowschen Reflexe nicht der menschlichen Selbstachtung abträglich, könnten wir uns amüsieren: Wir haben dank Konditionierung am ideologischen Freßnapf der Bundesrepublik (von Globke über Goldhagen zu Grass) gelernt, die deutsche Tragödie als bloßes Satyrspiel zu betrachten. Sie ist weder im Bewußtsein der classe politique noch der Intelligenzija so tief verankert, daß sie über die Reflexe politischer Vorteilsgewinnung hinausreichte.

Kein Trost in diesem Lande weit und breit. Ernsthafte Debatten über Hegemonie und Gleichgewicht, Juli-Krise, Novemberrevolution, Versailles und Inflation, Parteienstaat und Klassengesellschaft, Schuld und Versagen der Eliten, Ideologie und Utopie, Massengesellschaft und Totalitarismus, Verführbarkeit, Verführung und Verhängnis, über Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit, fanden in den fünfziger Jahren statt, lange vor dem 68er-Theater.

Kein Trost in den Gesetzen der Biologie: Gewiß, selbst wenn in der gerontischen Gesellschaft das Ableben sich real und statistisch verzögert, dürften in wenigen Jahren die letzten Berufserregten bei den bereits verblichenen Objekten der Empörung versammelt sein. Dann fehlt der rituellen Beschwörung des Entsetzens die Zielgruppe, Multikulti macht das Subjekt des Grundgesetzes unauffindbar. Womöglich handelt es sich um die späte Einlösung des narzißtischen Vermächtnisses des kinderlosen Mannes aus Braunau: Das deutsche Volk habe sich seiner nicht würdig erwiesen, es möge untergehen. Spätestens wenn, trotz von der Leyens Krippenspiel, dank Ethnomorphose sich des Führers letzte Wahnidee bestätigt hat, ist es mit den BRD-Reiz-Reaktionen vorbei. Nicht wenige Importbürger finden Hitler "echt geil, ey". Derlei Dispositionen ist mit den erprobten Dressurakten nicht beizukommen.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verspielte Filbinger durch Ableugnen seine Glaubwürdigkeit, trug so zum Niedergang konservativer Tradition in Deutschland bei. Wer die zahllosen Tragödien des Krieges, die tödliche Ausweglosigkeit von Befehlsgehorsam und Angst, soldatischer Tapferkeit und schmählicher Desertion dennoch verstehen will, der lese die Novelle "Unruhige Nacht" von Albrecht Goes.

 

Herbert Ammon lebt als Historiker und Publizist in Berlin.


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