© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Die verwirrende Vielfalt kommt
Sozialpolitik: Die Auswirkungen des jetzt gestarteten Wettbewerbs im Gesundheitswesen sind völlig ungewiß
Jens Jessen

Gemessen an den Vorankündigungen von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zeigt sich im Vergleich zu den vorangegangenen Gesundheitsreformen eine Qualitätsveränderung: Zum einen wird der angekündigte Wettbewerb im Gesundheitswesen Realität, und zum anderen werden die bisher aus verschiedenen Gründen Unversicherten Mitglied einer Kasse nach ihrem Gusto.

Fraglich ist nur, ob die Beteiligten mit dem Wettbewerb in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) etwas anfangen können. Nach Paragraph 53 SGB V können die Kassen freiwillige und verpflichtende Wahltarife anbieten: mit Selbstbehalt, Prämienrückzahlungen bei Nichtinspruchnahme von Leistungen, Kostenerstattung usw. An diese Wahl sind die Versicherten allerdings für drei Jahre gebunden.

Bei einem derartigen Zeitrahmen kann ein Selbstbehalt - ähnlich wie in der Privaten Krankenversicherung (PKV) - leicht zu einem finanziellen Pokerspiel mit der eigenen Gesundheit werden. Das gilt auch für das Modul einer Beitragsrückerstattung unter rigiden Bedingungen oder die Möglichkeit einer Kostenerstattung. Die Prämienrückzahlungen der Kasse an die Versicherten dürfen 20 Prozent der eingezahlten Beiträge, höchstens jedoch 600 Euro, nicht überschreiten. Bei einer Kombination von mehreren Tarifen einer Kasse liegt die Obergrenze bei 900 Euro.

Die entscheidende Frage ist natürlich, was die Versicherten und Patienten wollen. Die Angebote der Kassen werden durch den Wettbewerb erhebliche Änderungen erfahren. Versuch und Irrtum sind die Folgen eines Wettbewerbs, der völlig neue Perspektiven für die GKV-Kassen und Versicherten eröffnet. Die AOK bietet ihren Versicherten einen Selbstbehalttarif an, der es ihnen ermöglicht, bis zu 600 Euro pro Jahr einzusparen. Die Einsparung kann sich um höchstens 120 Euro verringern, wenn dem Mitglied im Kalenderjahr von einem Arzt ein Rezept verschrieben wird, das er einlöst. Dasselbe gilt, wenn das Mitglied zu einer Behandlung ins Krankenhaus muß. Arztbesuche ohne Rezeptausstellung wirken hingegen ebensowenig schädlich auf die mögliche Einsparung wie eine Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchung. Die Ersatzkassen planen unterschiedlich. Die DAK möchte bis zu 20 Selbstbehalttarife mit der Wahl zwischen Geld- und Sachprämien realisieren.

Die Barmer hantiert mit 18 Wahltarifen. Darunter befinden sich Bonusprogramme, Kostenerstattungs- und Selbstbehaltstarife. Die Techniker Krankenkasse bietet ebenfalls Selbstbehalte an, bei denen die ausgezahlte Prämie vom Einkommen abhängt. Ergänzt werden diese Tarife durch einen Rückerstattungstarif. Dem GKV-System darf jedoch durch die angebotenen Tarife nicht soviel Geld verlorengehen, daß die Beiträge steigen.

Unterschiedlichste Tarife wie in der Privatversicherung

Die kleine Auswahl sagt nichts darüber, in welchem Umfang die einzelnen Kassen damit bei den Versicherten punkten können. Die Welt berichtete zudem aus dem Bundesversicherungsamt (BVA), daß nur ein Teil der 150 überregionalen Krankenkassen bisher die Erlaubnis für Tarife erhalten hat.

BVA-Präsident Rainer Daubenbüchel betonte, daß die Genehmigungen nur vorläufig erteilt worden sind. Die Kassen müßten für die Erlangung einer vorläufigen Genehmigung plausibel nachweisen, daß ihre Kalkulation realistisch ist. Nach Ablauf eines Jahres sind die Kassen verpflichtet, einen Bericht über die Auswirkungen der Tarife vorlegen. Wenn die Ausschüttung der Prämien an die Gesunden auf Kosten der Kranken finanziert wird, werde die Genehmigung zurückgezogen.

In der Tagespresse wurden die Tarife breit dargestellt. Welche Auswirkungen der Tarifdschungel auf die Leistungsanbieter haben wird, wurde von keiner Seite aus beleuchtet. Bisher reichte es, wenn der GKV-Patient seine Chipkarte über den Tresen in der Arztpraxis schob. Das ist vorbei, wenn die Tarife in die Gänge kommen. Der Arzt muß zum Beispiel wissen, ob der Patient einen Wahltarif abgeschlossen hat, der ihm die sonst von der Verordnung ausgeschlossenen Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen auf Kassenrezept garantiert.

Das ist jedoch die leichteste Übung für den Arzt. Er muß nämlich viel weiter in die Materie eindringen: Die Versicherten können sich bei der einen oder anderen Kasse die unterschiedlichsten Leistungspakete andienen lassen. Der Arzt hat sich mit den damit verbundenen Sonderregelungen auseinanderzusetzen. "Da ist das Chaos programmiert, vor allem da die Kassen dieses Feld selbst noch nicht überblicken", warnte Ilse Schlingensiepen in der Ärzte Zeitung. Die Beobachter des Gesundheitswesens sind sich derzeit noch nicht einig darüber, ob sich das Verhalten der Versicherten im Rahmen in der neuen Wettbewerbssituation ändern wird.

Eindeutig positive Folgen der neuen Regelungen gibt es aber auch. Schutzimpfungen sind nicht mehr der Willkür der Kassen überlassen, und es liegt auch nicht im Ermessen der Kassen zu bestimmen, welche Rehabilitation für die Betroffenen notwendig ist. Die Weiterbehandlung von Krankenhauspatienten hat nach der Krankenhausentlassung mit Hilfe eines "Entlassungsmanagements" lückenlos gesichert zu sein. Und endlich haben Krebspatienten einen Anspruch auf palliativmedizinische Versorgung.

Informationen im Internet: www.g-k-v.com oder www.krankenkassen-direkt.de


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