© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Pankraz,
Weber und die Genetik als Dichtung

Ein soeben herausgekommenes Buch möchte Pankraz allen Freunden des Lebendigen wärmstens empfehlen: "Alles fühlt" von Andreas Weber, erschienen im Berlin Verlag (352 S., 19,90 Euro). Es trägt den etwas sperrigen Untertitel "Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften", ist sein Geld aber allemal wert, liest sich blendend und hat viel Zukunft in sich.

Sein Autor ist ein erfahrener Wissenschaftsjournalist, der sich kein X für ein U vormachen läßt. Die seinerzeit mit ungeheurem öffentlichen Pomp zelebrierte "Entschlüsselung des genetischen Codes" z.B. nahm er von Anfang an als das, was sie auch wirklich war: ein Schuß in den Ofen, ein Schlag ins Wasser. Aber es geht Weber in seinem neuen Buch nicht um Polemik, es geht ihm um einen Neuanfang in den Bio-Wissenschaften, und zwar um einen radikalen.

Die damaligen "Entschlüsseler" und ihre Jubelredner (darunter US-Präsident Clinton und der britische Premier Blair) taten so, als sei nun "das Buch des Lebens" aufgeschlagen, als könne man nun mittels Zurechtschneiden einzelner Gen-Kombinationen beliebig viele neue Lebensorgane konstruieren und gewissermaßen ungeniert Lieber Gott spielen. Weber wischt das einfach beiseite. Gene und Gen-Kombinationen, so zeigt er mit bisher nicht zu lesender Präzision und Ausführlichkeit, sind keine simplen organischen Bauklötzchen, es sind lebendige, fühlende Wesen mit einem eigenen "Willen", proteische, sich von Situation zu Situation wandelnde Lebewesen, die die Biologie vor gänzlich neuartige Probleme stellen.

Weber scheut sich nicht, die kräftigsten Vergleiche zu bemühen. Eine Revolution in den Lebenswissenschaften stehe bevor, schreibt er, ein Umbruch, der so etwas wie eine zweite Heisenbergsche Unschärferelation, eine zweite Quantenmechanik hervorbringen werde. Das traditionelle Ursache/Wirkung-Schema, also die Kausalität, wird außer Kurs gesetzt. Oder, in Webers eigenen Worten:

"Hier" (in den Genen) "ist etwas am Werk, dem daran liegt, nicht zugrunde zu gehen. Etwas Subjektives, das einem Ziel folgt. Das alles, was es erfährt, bewertet ... Dieses Fühlen ist plötzlich eine Kraft, die Materie ordnen kann. Fühlen ist nichts spezifisch Menschliches, im Gegenteil. Es kommt in allen Lebewesen zum Ausdruck, weil es ihre Biologie bestimmt."

An anderer Stelle kommt Weber auf das Verhältnis zwischen Gefühl bzw. Wille und Körper bzw. Stoff zu sprechen. "In der Materie ist eine Tendenz zur Höherentwicklung, ja sogar zur Selbsterfahrung versteckt. Ein 'Prinzip der Fülle', das aber niemals ohne den Stoff auskommen kann. Das Göttliche, wenn wir so darüber reden wollen, ist dann immer schon enthalten und sucht eine Möglichkeit, wirklich zu werden."

"Alles fühlt" ist kein Buch für Fachphilosophen, wendet sich vielmehr an ein allgemein gebildetes Publikum mit Interesse für aktuelle Wissenschaftsfragen. Aber die großen historischen Vorbilder und Anreger sind deutlich sichtbar: Aristoteles mit seiner Form/Stoff-Dialektik, Spinoza mit seinem Schema aus "natura naturans" (der "schaffenden" Natur) und "natura naturata" (der "geschaffenen" Natur), Goethe mit seinen "Formen, die lebendig sich entwickeln". Es ist nicht der geringste Reiz des Weberschen Buches, bei der Lektüre zu verfolgen, wie die alten, hochberühmten, "metaphysischen" Deutungsmuster des Lebens Schritt für Schritt in den modernen Diskurs zurückkehren.

Was man einst an Goethe in seinem Streit mit Newton so herablassend belächelte: seine Wut gegen das Zerschneiden und Zerschnipseln der Forschungs-"Objekte", ihr brutales Hineinzwängen ins Streckbett mechanischer Laborexperimente - das erweist sich nun plötzlich als der Weisheit letzter Schluß. Auch Molekularbiologen müssen wohl oder übel lernen, Gene und Proteine mit Respekt zu behandeln, gleichsam von gleich zu gleich mit ihnen zu verkehren, weil anders keine haltbaren Auskünfte mehr zu erhalten sind. Was für eine Genugtuung für Goethe!

Indes, was heißt es denn, mit den Genen respektvoll und auf Augenhöhe umzugehen? Wie soll man sie befragen, wenn sie keine bloßen (Forschungs-)Objekte mehr sind? Welche Sprache soll man sich ausdenken, um einen wahrhaft neuen, ertragreichen Dialog zwischen der "inneren" Subjekt-Natur der Forscher und der "äußeren" Subjekt-Natur ihrer ehemaligen Objekte in Gang zu bringen? In dieser Frage kulminiert das Buch von Andreas Weber, und seine Antwort ist leider eher unbefriedigend, wenn auch aufregend und anregend.

Er plädiert für "poetische Präzision" sowohl bei den inneren Fachdebatten der scientific community als auch in der wissenschaftlichen Pädagogik, also beim Vermitteln wissenschaftlicher Einsichten. Mit Händen und Füßen wehrt er sich gegen eine Verwechslung dieser poetischen Präzision mit unwissenschaftlichem Schwärmertum, bloßem Gequatsche oder esoterischer Geheimnistuerei. Wie aber die poetische Präzision in der Lebenswissenschaft der Zukunft wirklich aussehen soll, darüber gibt es letztlich keine Auskunft.

Auch da grüßt übrigens ein Vorbild aus der (romantischen) klassischen Philosophie. Um 1800 hielt der junge Schelling an der Universität Jena Vorlesungen, in denen es genau um die Etablierung einer "präzisen Poesie" als Wissenschaftssprache ging. Nicht der Mathematiker oder der mechanisch operierende Experimentator sollten künftig den Diskurs bestimmen, sondern der Poet, sofern er sich von allem Zufälligem freizumachen wisse und "ganz zu Natur" werde. "Die Kunst", dozierte emphatisch Schelling, "ist das wahre und ewige Organon der Wissenschaft ... Denn die Natur ist ein Gedicht, das in geheimer, wunderbarer Schrift verschlossen liegt. Nur die Kunst kann das Rätsel lösen."

Schelling selbst schämte sich später solcher Aussagen und wiederholte sie nicht. Er kehrte der Wissenschaft den Rücken und wurde "positiver Theologe". Und Andreas Weber? Auch ihm droht unter Umständen Ungemach. Vielleicht sind die Gene doch keine Gedichte.


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