© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Was mir die Liebe erzählt!
Nichts war von jeher da: Der Gustav-Mahler-Zyklus der Staatskapelle unter Barenboim und Boulez
Jens Knorr

Mahlers Musik ist das Tor, durch das alle Musik und alles Musikverständnis hindurch müssen, wollen sie zur Moderne gelangen. Steht einer auf der Seite des 19. Jahrhunderts, so hört er weit in das neue Jahrhundert voraus, steht er auf der Seite des neuen, so hört er weit in das alte zurück, zu Schumann und Schubert, zu Beethoven und Bach, aber auch in das Mittelalter aus zweiter Hand, die Welt von "Des Knaben Wunderhorn", der Gesellenlieder.

Die Musik Gustav Mahlers (1860-1911) spielt dem Jahrhundert der Extreme auf wie Freund Hein auf der einen Ton höher gestimmten Fiedel im zweiten Satz der Vierten, dem Weltuntergang von 1914 und allen Erdbeben danach, die kamen und kommen werden. Und sie sucht die ganze Tradition bürgerlichen Komponierens in sich aufzuheben, die zerbrochenen Stücke, auf welcher Halde sie auch immer lagern, von hohem Verstand und niedrigem Bedürfnis, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Seine Zeit würde kommen, hat Mahler prophezeit. Seine Zeit ist da.

Die Staatskapelle Berlin spielt Mahler, und es ist Pfingsten an Ostern! Unter Daniel Barenboim (64) und Pierre Boulez (82) spielt sie innerhalb von zwölf Tagen an zehn Abenden die neun vollendeten Symphonien, "Das Lied von der Erde" und die Orchesterlieder, den kanonischen Mahler also. Ein solch titanischer Kraftakt kann gar nicht gelingen! Und er ist doch gelungen und vielleicht die einzige Möglichkeit überhaupt, dem Werk des Titanen irgend noch Erkenntnis abzugewinnen, das längst durchgesetzt und, ins Repertoire abgesunken, jener Tradition von Bequemlichkeit und Schlamperei anheimgefallen ist, die der Dirigent Mahler zeitlebens bekämpft hat, in Hall, Laibach, Olmütz, Kassel, Prag, Leipzig, Hamburg, Budapest, schließlich in Wien.

Nicht etwa, daß die Staatskapelle bisher keine Erfahrungen mit Mahlers Werk gemacht hätte - ihre Aufnahme der 2. Symphonie unter Oskar Fried im Jahr 1924 war sogar die erste Gesamtaufnahme einer Mahler-Symphonie überhaupt -, und nicht etwa, daß die Mahler-Renaissance seit den sechziger Jahren sang- und klanglos an ihr vorübergegangen wäre, aber richtig ernst mit Mahler machte sie erst in den zwei denkwürdigen Konzerten, als der Komponist und Dirigent Friedrich Goldmann im Januar 1983 vor das Orchester trat, um die Sechste, die mit den beiden Hammerschlägen, zu dirigieren.

Orchester gegen Dirigent, Partitur gegen Orchester

Goldmann hatte bei den Musikern nicht nur die Orchesteraufstellung durchgesetzt, für die Mahler geschrieben hatte, sondern auch die Partitur durchzusetzen versucht, die Mahler geschrieben hatte. An diesen Abenden hatte ein Kampf stattgefunden, Orchester gegen Dirigent, Partitur gegen Orchester, war beide Male ein "gegen den Strich gebürstetes Werk" erstanden, wie das gängige Urteil für künstlerische Ereignisse geht, die sich gängigen Urteilen entziehen. Goldmann hatte von jedem Musiker, jeder Orchestergruppe das Äußerste abzufordern gewagt: nicht Brillanz, sondern Wahrhaftigkeit.

"Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen" - so Mahlers berühmte Äußerung zu Nathalie Bauer-Lechner im Sommer 1895. Wie jede einzelne Symphonie eine Welt aufbaut, ihr zum Durchbruch verhilft oder ihre Zerstörung protokolliert, so baut jede die Welt weiter und um, die von der vorherigen hinterlassen wurde. Nichts war von jeher da, nichts ist neu erfunden.

Genauso genommen sind es zwei Orchester, die Mahlers Welten bewegen, das unter Boulez (2., 3., 4., 6. und 8. Symphonie, einige der Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn"), das ihren Bau nachvollzieht, und das unter Barenboim (1., 5., 7., 9. Symphonie, "Das Lied von der Erde", "Kindertotenlieder", "Lieder eines fahrenden Gesellen", Rückert-Lieder), das sich in ihnen umtreibt. Es ist aber nicht so, daß Boulez und Barenboim die Zuständigkeiten für die musikalischen Strukturelemente und die Intentionen des Ausdrucks unter sich aufgeteilt hätten. Genaugenommen ist es ein Orchester, das diese Spannung zwischen Form und Ausdruck einen Zyklus lang in jedem Einzelwerk austrägt, das romantischste Orchester, das in Berlin gegenwärtig zu hören ist.

Die Musiker der Staatskapelle Berlin erzählen die Symphonien als Weltenschöpfungszyklus an zehn Tagen, ohne dabei auf leere Programmatik vom Schlage: Was mir der Tod, die Blumen auf der Wiese, die Tiere im Walde, die Nacht, die Morgenglocken, die Liebe, das Kind und wer oder was nicht noch alles erzählen, zu verfallen. Sie erzählen vom Werden, der Arbeit, dem Zerfall thematisch-motivischen Materials, davon, wie es sich mit Bedeutung auflädt, Bedeutung ändert, verliert, als erinnertes wiederkehrt oder überdauert.

Erst mit dem gehörten Wissen um die ersten drei Symphonien ist die Vierte als Keimzelle aller kommenden verständlich, ein "Schlüsselwerk", von Boulez in abgrunddurchsichtiger, photographischer Klarheit dirigiert. Und erst mit dem gehörten Wissen um alle acht - mit dem "Lied von der Erde" neun - Symphonien kann Mahlers unvergleichliche Leistung ermessen werden, im Angesicht des Todes Sonatenform und Lied zu versöhnen, und können die Strophen des Adagios der Neunten mit der lebenssüchtigen Emphase abgefeiert werden, die Barenboim dem groß besetzten Streicherapparat abgewinnt.

Barenboim, der Hingerissene, will mitreißen, seine Emotionen auf Orchester und Hörerschaft übertragen, und täuschte nicht alles, so sah man mehr als einmal den Mahlerschen "Zuckfuß", den rechten, zucken. Seine Interpretation des Adagios der Neunten will bezwingen. Boulez rekonstruiert den Bau der Symphonien, den der Hörer mit seinen Gefühlen erst zu besetzen hätte. Seine Interpretation des Adagios der Dritten ist zwingend. Auch wenn der Rezensent Boulez' Interpretationen denen Barenboims deutlich vorzieht, so wollte und konnte er sich ihren Augenblickswirkungen nicht entziehen.

Wer sich all das angehört und angesehen, an all dem sehenden Ohres mitgearbeitet hat, die unterschiedliche Tagesform der Beteiligten bewundern durfte oder bedauern mußte, der hat nicht einfach 14 Stunden Musik abgesessen, sondern der hat Lebenszeit - und eine Stange Geld - geopfert, Kraft vom öden Tagwerk abgezogen und dem Eigentlichen, dem Lebenszweck: dem Kunsterleben zugeführt. Der zählt zu den Leuten, die heute gebraucht werden.

Titanischer Übermut und Demut vor dem Werk

Enthusiastischer Beifall, ein kollektiver Aufschrei nach dem Schlußtakt der Siebten, standing ovations an allen zehn Abenden des Mahler-Fests, Jubel für das Orchester, die Orchestergruppen, die Solisten, für den Staatsopernchor Berlin, den Philharmonischen Chor Prag, die Aurelius Sängerknaben Calw, die Gesangssolisten, insbesondere für Thomas Quasthoff und Christine Schäfer - beide vom Rezensenten unbejubelt! -, Jubel für Boulez und Jubel für Barenboim, die großen kleinen Männer mit ihrem titanischen Übermut und ihrer Demut vor dem Werk. Die Freunde hören einander zu. Steht der eine am Pult, dann sitzt der andere im Saal; als Boulez die Sechste mit unerbittlicher Partiturtreue von der ersten bis zur letzten Note durchführt, ohne ihre formale Anlage aufzuweichen, ohne ihrem formsprengenden Verlauf auszuweichen, da hat Barenboim die aufgeschlagene Partitur auf den Knien liegen.

Draußen vor den Türen der Philharmonie allabendlich der Straßenmusikant mit der Balalaika, der Brezelverkäufer und der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung. Accende lumen sensibus. Es war ihre Musik, die drinnen erklang. Wie brillant und wie wahrhaftig wird die Staatskapelle die Sechste unter Barenboim spielen? Wie anders wird Gustav Mahlers Werk in vier Jahren, wenn Mahler hundert Jahre tot sein wird, erklingen?

Fotos: Staatskapelle Berlin: Genauso genommen sind es zwei Orchester, die Mahlers Welten bewegen, das unter Boulez und das unter Barenboim; P. Boulez, D. Barenboim

Mit der Staatskapelle Berlin hat Daniel Barenboim Mahlers 7. und 9. Symphonie auf CD eingespielt (Warner Classics 2564 62963-2 und 2564 64316-2).


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