© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/07 20. April 2007

Ein moralisches Verbrechen
Anthony Grayling hat einen Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte des Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg geschaffen
Horst Boog

Das derzeit besonders in Großbritannien heiß diskutierte Buch von Anthony Clifford Grayling behandelt insbesondere die britischen, daneben auch amerikanische Bombardements von Städten im Zweiten Weltkrieg. An Fakten und Argumenten bringt es für den Kenner des Geschehens nichts Neues. Aber es unterwirft dieses erstmals in England einer konkludenten, umfassenden und unbarmherzig rigorosen moralischen Kritik, wie sie in dieser Vollständigkeit noch nicht vorgenommen worden ist.

Die Inhumanität des unterschiedslosen Bombenwurfs der Alliierten auf Städte und Zivilisten ist im Westen im Gefühl des Sieges in einem als gerecht empfundenen Krieg lange Jahre hinweg nicht thematisiert, teilweise sogar entschuldigt und meist nur am Rande erwähnt worden, rückte aber in letzter Zeit immer mehr in das historische Interesse. So finden sich bereits viele der Argumente und Fallbeispiele in den englischsprachigen Veröffentlichungen von Michael Sherry, Ronald Schaffer, Geoffrey Best, Stephen Garrett und Tami Davie Biddle und anderen, in der deutschsprachigen Literatur bei Winfried Georg Sebald und Jörg Friedrich.

Sie alle hoben das Thema allmählich in das öffentliche Interesse, bis nun der bekannte britische Schriftsteller und Philosoph der Universitäten von London und Oxford ein ganzes Werk der systematischen Analyse und moralischen Kritik dieser Art der alliierten Bombenkriegführung widmet und zum zentralen Anliegen macht, was bisher am Rande stand. Sein Urteil ist eindeutig, hart und kompromißlos: Das bewußte Bombardieren von Zivilisten in den Städten sei in Abwesenheit eines internationalen Vertragsvölkerrechts über den strategischen Bombenkrieg, auf dessen Grundlage man solches Vorgehen hätte kriminalisieren können, zwar kein Kriegsverbrechen, aber ein moralisches Verbrechen, eine permanente Verletzung des den Verantwortlichen wohlbekannten humanitären Völkergewohnheitsrechts gewesen.

Die Bomberbesatzungen, die die Angriffe ausführen mußten, schließt er fairerweise ausdrücklich von seinem Verdammungsurteil aus. Er habe das Buch geschrieben, um einen Schlußpunkt unter die bisherige Bombenkriegsdiskussion zu setzen, späteren Kriegführenden zu zeigen, wie man sich im Kriege nicht verhalten sollte, und um die geschichtliche Überlieferung des Geschehens durch klare, freimütige und faire Diskussion vor simplifizierenden Legenden zu bewahren, wie sie besonders von Neonazis durch Aufrechnung des nicht Aufrechenbaren für ihre politischen Zwecke ausgebeutet werden.

Der Verfasser schöpft, so sehr er Friedrichs Buch "Der Brand" als zeitgemäß und seinen eigenen Schlußfolgerungen nahekommend anerkennt, ausschließlich aus der englischsprachigen Literatur zum Bombenkrieg, weil er das Thema vom Standpunkt eines Angehörigen der Siegernationen behandeln will in der Hoffnung, daß dort nun genügend Abstand für ein freimütiges Bekennen auch der eigenen Fehlhandlungen besteht. Auffällig ist, daß eine ganze Reihe englischsprachiger Veröffentlichungen, die zum Verständnis militärischen Handelns unter dem Druck der Kriegsumstände und technischer Sachzwänge vielleicht hilfreich sein können, offensichtlich nicht benutzt wurde.

Grayling beginnt mit einer gekonnten, im allgemeinen ausgewogenen Zusammenfassung des Ablaufs des alliierten strategischen Bombenkrieges unter besonderer Berücksichtigung der Flächenangriffe der Royal Air Force. Kurz behandelt werden auch die Operationen der amerikanischen Heeresluftstreitkräfte gegen Ziele in Deutschland und Japan. Die um Objektivität bemühte Darstellung geht von der zeitgenössischen englischen Sicht aus, der Rotterdam und Coventry als Terrorangriffe erschienen, wie dies auch von der Kriegspropaganda ausgebeutet wurde. Um so hilfreicher wäre eine kurze Skizzierung des kriegsvölkerrechtlichen Rahmens gewesen, innerhalb dessen damals taktische bzw. strategische Bombenangriffe zulässig waren, sowie auch eine Unterscheidung zwischen beiden, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, die Deutschen hätten mit den Terrorbombardements angefangen. Dies hat ja der Völkerrechtsexperte im britischen Luftfahrtministerium, James Molony Spaight, schon 1944 widerlegt.

Mit Empathie werden dann die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung unter den von Churchill geforderten "exterminating attacks", den Flächenangriffen auf deutsche Städte geschildert, die dem britischen Premier selbst zuweilen unheimlich vorkamen ("Are we animals?"). Mit Recht hebt Grayling hervor, daß durch die amerikanischen sogenannten Präzisionsangriffe weit weniger deutsche Zivilisten getötet wurden als durch die nächtlichen britischen Städteangriffe, die rüstungsmäßig gesehen obendrein von sehr viel geringerer Wirksamkeit waren. Ihm ist zuzustimmen, daß die Amerikaner durch ihre spätere, zunächst vom Wetter erzwungene sehr ungenaue Bombardierungspraxis durch Wolkenbedeckung mittels Radar den britischen Flächenbombardements sehr nahekamen. Eigenartigerweise wird der Begriff "Thunderclap" (Donnerschlag) als Kern der mit den britischen Städteangriffen der letzten Kriegsmonate verbundenen Absicht, zur schnellen Beendigung des Krieges unter der deutschen Zivilbevölkerung ein Chaos zu schaffen, nicht erwähnt, obwohl diese Absicht im Falle Berlins und Dresdens stärker hervorgehoben wird als in Frederic Taylors Buch "Dresden. Tuesday, February 13, 1945" von 2004 (JF 18/04).

Bei der Darstellung der Entwicklung der britischen Bombenkriegsdoktrin wird sehr richtig auf die negativen Folgen der im Ersten Weltkrieg in ihren Auswirkungen noch gar nicht schlüssigen, da noch nicht nachhaltigen deutschen Bombenangriffe auf England hingewiesen. Es wurden nämlich, durch weitere Erfahrungen nicht gestützt, die psychologischen Auswirkungen der Bombardierung von Zivilisten nach dem Kriege im britischen Luftstab, verstärkt durch die Erfolge des kostensparenden sogenannten "Imperial policing" (Befriedung von Mandatsvölkern durch Luftangriffe), per Extrapolation einfach auf das Zwanzigfache der erzielten materiellen Schäden vervielfacht, so daß fortan in der britischen Doktrin die Bombardierung der arbeitenden Zivilbevölkerung als Regel im Gegensatz zur deutschen und amerikanischen Luftkriegsdoktrin einen vorderen Platz einnahm.

Möglicherweise war dieses übermäßige Vertrauen auf die psychologische Wirkung ein Grund dafür, daß das Bomber Command in der Zwischenkriegszeit den genauen Bombenwurf bei Kriegsbeginn zum eigenen Nachteil nicht besonders übte, schien doch die materielle Wirkung nicht so entscheidend zu sein. Aber es gab auch für die Briten humanitäre und opportunistische Gründe, sich zunächst an militärisch relevante Ziele zu halten, bis bald der von der britischen Regierung vorgegebene Begriff "military objective" zuvörderst als Feigenblatt für unterschiedslose Bombardements von Zivilisten diente, wie der Verfasser freimütig betont. Zuzustimmen ist ferner seiner Feststellung, daß sich die Städteangriffe wegen der relativen Selbständigkeit des Bomber Command gegenüber dem nun auf Präzisionsziele setzenden Air Staff und wegen des bloßen Vorhandenseins von immer mehr Bombern und Bomben mehr durch einen gewissen Automatismus als durch antideutsche Propaganda fortentwickelte.

In dem Kapitel "Voices of Conscience" (Stimmen des Gewissens) wird die bereits während des Krieges vom Bischof von Chichester, George Bell, vom Abgeordneten Richard Stokes, Vera Brittain und anderen geäußerte Kritik an der britischen Bombenkriegführung behandelt. Diese sei unmenschlich, da gegen Zivilisten gerichtet, kontraproduktiv, indem sie die Deutschen dem Westen entfremde, ihren Widerstandswillen stärke und damit den Krieg verlängere. Sie treibe auch die Deutschen ins kommunistische Lager und ziehe die Briten auf das Niveau der NS-Verbrechen herunter. Die Kritiker wurden in der britischen Öffentlichkeit seinerzeit weitgehend verachtet und erlitten persönliche Nachteile. Dies alles ist jedoch schon von Roland Schaffer und Stephen Garrett ausführlich beschrieben worden.

Der anschließende Abriß der Entwicklung des Kriegsrechts von Thomas von Aquin über Hugo Grotius und Immanuel Kant bis zur Charta des Nürnberger Militärgerichts und dem ersten Zusatzprotokoll von 1977 zur Genfer Konvention über den Schutz der Zivilpersonen vom 12. August 1949 handelt vom Recht im, nicht zum Kriege. Ersteres ist der Kern von Graylings Argumentation. Das Fazit ist, daß Kriegshandlungen militärisch notwendig und verhältnismäßig sein müssen, um zulässig oder "gerecht" zu sein. Die Bombenangriffe auf Städte seien dies nicht gewesen, und dies sei den verantwortlichen Politikern und militärischen Führern immer schon bewußt gewesen. Die Genfer Konvention von 1949 nennt der Verfasser eine deutliche "retrospektive Anklage gegen die unzulässige Kriegspraxis". Daß das den Luftkrieg einschränkende Zusatzprotokoll beispielsweise von den USA noch nicht ratifiziert wurde - nach Einschätzung des amerikanischen Völkerrechtlers William Hays Parks aus verständlichen Gründen -, war dem Verfasser ein weiterer Anlaß, sein Buch zu schreiben.

Schließlich nimmt sich Grayling die Argumente vor, wie sie vom Oberkommandierenden des Bomber Command und Luftmarschall der britischen Royal Air Force, Arthur Harris, und anderen Verteidigern der Städtebombardements vertreten wurden, und verwirft sie alle. Er wiederholt, daß die deutsche Kriegsrüstung nicht durch das Töten von Zivilisten in den Städten, sondern durch die vornehmlich amerikanischen gezielten Angriffe auf kriegswichtige Objekte zusammengebrochen sei. Die zivile Moral sei dadurch ebenfalls nicht gebrochen worden. Die Flächenangriffe seien besonders in den letzten Kriegsmonaten, als Deutschlands Niederlage absehbar war, völlig überflüssig gewesen.

So sehr man den meisten Argumenten und Schlußfolgerungen des Autors zustimmen muß, so offensichtlich urteilt er manchmal vom grünen Tisch oder von zu hoher Warte und ohne ausreichende Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände, Möglichkeiten und Sachzwänge, die das Handeln der Verantwortlichen unter dem Druck, Krieg führen zu müssen, bestimmen. So ist es leicht gesagt, zur Gewährleistung der Fortführung der genaueren Tagesangriffe anstelle des Übergangs zu Nachtangriffen den sofortigen Bau von Begleitjägern zu fordern. Selbst die technischen Fachleute hielten angesichts der in dieser Eigenschaft fehlgeschlagenen deutschen Messerschmidt 110 einen Fernjäger mit den Charakteristiken eines Abfangjägers für nicht konstruierbar. Außerdem erzeugt die Umstellung auf die Produktion neuer Flugzeugmodelle wegen deren "Kinderkrankheiten" immer erst eine Produktionslücke, die sich die Briten wegen ihrer Nähe zum Kriegsschauplatz weniger leisten konnten als die Amerikaner, die übrigens auch mehr zufällig zur Entwicklung ihres erfolgreichen Langstrecken-Begleitjägers P 51 "Mustang" gelangten. Auf lange Sicht hat Grayling natürlich recht. Allerdings ließen sich noch andere Beispiele für überzogene Urteile anführen.

Graylings Werk ist trotzdem ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte des Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg. Es ist ein ehrliches und mutiges Buch, dessen Schlußfolgerungen man weitgehend zustimmen muß. Man sollte es vielleicht noch um den Gedanken ergänzen, daß sich nicht nur die britischen und amerikanischen Luftangriffskräfte, sondern auch die deutschen, je länger der Krieg dauerte und je erbitterter er geführt wurde, aus den verschiedensten Gründen, Hoffnungen und Zwängen auf dem untersten gemeinsamen Nenner trafen, dem des unterschiedslosen Bombenkrieges. Die Briten eröffneten ihn mit dem Ausbrennen von Lübeck am 28. März 1942 und fuhren mit solchen Städteangriffen als Regel über Hamburg bis Dresden fort, obwohl sie inzwischen genauere Zielverfahren entwickelt hatten.

Die Deutschen folgten angesichts der Verheerung der kulturhistorisch wertvollen Altstadt mit ihren Vergeltungsschlägen, den sogenannten "Baedeker-Angriffen" auf englische historische Städte, wenn auch nur für kurze Zeit (hauptsächlich April bis Juni 1942), und setzten sie ab Mitte 1944 mit den V-Waffen fort. Damit war auch hier seit Lübeck die Absicht der unterschiedslosen Vernichtung manifest, wenngleich Hitlers Befehl hierzu in der Luftwaffe allgemein für falsch gehalten wurde.

Die Amerikaner, die sich zwar sehr lange um gezielte Tagesangriffe auf militärisch relevante Ziele bemüht hatten, kamen als letzte der unterschiedslosen Bombenkriegführung sehr nahe, weil sie wegen der in Europa im Gegensatz zu den USA meist schlechteren Sicht seit Anfang 1944 mit dem H2X-Radar durch Wolkenbedeckung zu bombardieren begannen, wohlwissend, daß sie damit vor allem zivile Objekte trafen. Sie wählten dieses Verfahren nicht zuletzt deshalb, weil die wegen Treibstoffmangels immer schlechter ausgebildeten deutschen Jäger, die ihnen noch im Herbst 1943 schwere Verluste beigebracht hatten, bei schlechtem Wetter zum Verbandsangriff kaum fähig waren. Mit dem noch konventionellen Ausbrennen von Tokio und den beiden Atombomben auf Japan - nach Grayling absolut unnötig - brachten sie die Praxis des unterschiedslosen Bombenkrieges schließlich auf ihren Höhepunkt. Die Moral hinkte bei allen den Verführungen durch die technischen Möglichkeiten der neuen Waffensysteme Bomber und Rakete hinterher, denn jeder wollte den Krieg unter allen Umständen gewinnen. Hauptleidtragende war die deutsche Zivilbevölkerung, denn Hitler fehlten die Mittel, bei diesem Wettrennen mitzuhalten. Mit Grayling ist zu hoffen, daß die Zeit reif ist für eine allgemeine Akzeptanz seiner Darstellung der moralischen Verwerflichkeit des unterschiedslosen Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg. Dem Buch ist deshalb eine weite Verbreitung zu wünschen.

 

Dr. Horst Boog, ehemaliger leitender wissenschaftlicher Direktor des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Freiburg, ist Herausgeber der Bände "Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich" (1992).

Anthony C. Grayling: Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? C. Bertelsmann Verlag, München 2007, gebunden, 414 Seiten, Abbildungen, 22,95 Euro

Foto: B-17-Bomber, "Fliegende Festungen" beim Tagangriff in Formation, Bombenregen auf das japanische Kobe im Juni 1945: Militärisch nicht notwendig und unverhältnismäßig

Foto: Bombenzerstörungen in Berlin 1944: "Unmenschlich, da gegen Zivilisten gerichtet"


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