© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Dramatisch verschärft
Wirtschaftsbericht: Der Verlust sozialer Stabilität kommt nicht in den Blick
Wilhelm Hankel

Das ärztliche Bulletin könnte nichtssagender nicht sein. Dem Patienten, das ist die deutsche Volkswirtschaft, geht es zwar besser. Doch woher der Umschwung kommt und wem er zu verdanken ist, verraten die Ärzte, das sind die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute der Bundesrepublik, der Öffentlichkeit nicht. Auch sagen sie nicht, woran der deutsche Patient nach wie vor leidet. Dennoch sind sie sich einig, daß er seine rätselhafte Krankheit am besten dadurch überwindet, daß er geduldig im Spital ausharrt, bis er wieder zu Kräften gekommen ist und dann entlassen werden kann!

Diagnosen und Therapien dieses Typs sind zwar für den Auftraggeber, die Regierung, durchaus reizvoll. Sie sind ein Persilschein für dessen seit Jahren nicht gerade erfolggekrönte Politik. Die Öffentlichkeit erfährt über die wahren Probleme des Landes und seine Hintergründe praktisch nichts. Ihr wird lediglich mitgeteilt, ab sofort gehe es wieder aufwärts: 2,4 Prozent Wirtschaftswachstum in diesem und im nächsten Jahr, eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit bis Ende 2008 um rund eine Million Menschen (bis auf 3,5 Millionen) sind schließlich - wenn auch ungesicherte - Erfolgsmeldungen, die sich sehen lassen können und mit denen keiner mehr gerechnet hat.

Doch daß Deutschland trotz des sich beschleunigenden wirtschaftlichen Aufwärtstrends nach wie vor in der Welt und Europa zurückbleibt - das globale Bruttoinlandsprodukt wächst derselben Prognose nach bis 2008 um jährlich 3,25 Prozent, der Welthandel um 7,5 Prozent, die meisten EU-Länder expandieren stärker -, daß die deutsche Volkswirtschaft bei der Beseitigung ihrer strukturellen Wachstumshemmnisse kaum weitergekommen ist, daß der Verarmungsprozeß bei Mittelstand und Arbeitnehmerschaft trotz der günstigen Zahlen weitergeht und der angekündigte Boom an den meisten Menschen vorbeigeht, das alles geht im Jubel der Forschungsinstitute unter.

Ökonomische Forschung erschöpft sich nicht im Fortschreiben von Status-quo-Berichten. Sie sollte die Probleme aufzeigen, der Politik Ratschläge geben, wie sie diese anpackt und auflöst, und vor falschen Konzepten warnen. Doch strukturelle Analysen, Regierungskritik und wirtschaftspolitische Strategie- und Alternativkonzepte sind dieser Gemeinschaftsdiagnose (wie auch fast allen früheren) fremd. Braucht man solche (mit viel Tamtam übers Fernsehen mitgeteilten) Forschungsergebnisse überhaupt? Zumal man das meiste ohnehin aus anderer (und teilweise kompetenter) Quelle kennt: den Berichten der Deutschen Bundesbank, der Europäischen Zentralbank und der internationalen Wirtschaftsorganisationen.

Dabei gäbe es Untersuchungsstoff genug. Da heben die Institute den Beitrag der fallenden Lohnstückkosten zum stärkeren Wirtschaftswachstum hervor. Was aber ist mit den für die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes ungleich gravierenderen Kapitalstückkosten? Den hohen Kosten der Bankkredite, weit über dem Niveau der Kapitalmarktzinsen? Oder den Finanzierungsquellen des als neue Wachstumsstütze entdeckten privaten Konsums: Woraus sollen die Mittel für den prognostizierte Mehrkonsum kommen: aus höheren Masseneinkommen (die es nicht gibt) oder geringerem Sparen (das auch nicht vorliegt)? Oder: Wie wirkt sich die von den Instituten geforderte Verstärkung des Konsolidierungsprozesses bei den öffentlichen Haushalten auf die erwartete Zunahme des Wirtschaftswachstums aus? Kann dergleichen überhaupt aufgehen? Oder: Wem wachsen die nochmals kräftig ansteigenden Gewinne zu: den Unternehmen zwecks verstärkter Selbstfinanzierung ihrer Investitionen, den shareholders zwecks höherer Ausschüttung und Vermehrung der ohnehin bestehenden Einkommens­ungleichheit oder der Massenkaufkraft der Beschäftigten?

Das alles sind Fragen, die Gesellschaft und Politik auf den Nägeln brennen und auf die sie gerne eine Antwort wüßten. Diese kann nicht von den volkswirtschaftlichen Lehrstuhlinhabern an den Universitäten kommen, sondern einzig und allein den praxis- und politiknahen ökonomischen Forschungsinstituten. Dafür sind sie gegründet worden, und allein dafür werden sie von ihren öffentlichen Auftraggebern bezahlt. Und warum müssen sie wohlabgestimmt im Chor Meldung erstatten? Begründete Meinungsunterschiede wären für die Öffentlichkeit sehr viel aufschlußreicher und kämen auch der Wahrheit näher.

Wiedervereinigung und Opferung der Währungs- und Haushaltssouveränität auf dem Altar Europas stellen für die deutsche Wirtschaftspolitik eine total neue Situation und Herausforderung dar. Die alten Probleme sind nicht nur geblieben; sie haben sich dramatisch verschärft: Wie sichert man wirtschaftliches Wachstum, schafft Wohlstand und Arbeitsplätze für alle und nicht nur einige, ohne wie früher auf das altbewährte Instrumentarium der Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zurückgreifen zu können? Für die Forschungsinstitute ist die Welt die alte geblieben. Sie "analysieren" nach der Methode 08/15. Die Frage, was aus Deutschland und Europa wird, wenn sich der Verarmungsprozeß hierzulande fortsetzt und das Land seine soziale Stabilität verliert, bringt sie nicht aus dem Konzept.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel lehrt Währungspolitik an der Universität Frankfurt am Main.


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