© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Pankraz,
Karl Wald und die Schrecken des Patt

Schach und Politik - das Thema klingt reizvoll, besonders wenn es von einer Kapazität wie Garri Kasparow, dem russischen Schachgenie und Oppositionspolitiker, ins Gespräch gebracht wird. Kasparows soeben in England erschienenes Buch "How Life imitates Chess" ("Wie Leben das Schachspiel imitiert", Arrow Verlag, London, 25 Euro) findet denn auch besten Absatz; auch Pankraz hat sich gleich ein Exemplar kommen lassen.

Freilich, sonderlich groß ist der Erkenntnisgewinn bei der Lektüre nicht. Kasparow ist, wie alle eingefleischten Schachspieler, ein leidenschaftlicher Kämpfer. Bei ihm ist dauernd Krieg, er kennt letztlich nur Angriff und Verteidigung, Bauern- und Offiziersopfer, Sieg oder Niederlage. Und in seinem Buch überträgt er den angestammten Kriegscharakter des Schach einfach Zug für Zug auf die moderne Politik. Da kann nicht viel herauskommen.

Denn die Regeln demokratischer Politik, für die Kasparow ja eintritt, sind gerade nicht auf Krieg abgestellt, zielen eher auf Kompromiß statt auf Sieg, auf Kungelei statt auf frontalen Angriff. Belangvoll für demokratische Politik ist das Schachspiel allenfalls in seinen verlegenen Ausnahmesituationen, beim Remis und vor allem beim Patt. Das Problem für demokratische Politik besteht darin, Kompromisse zu finden und dabei Patt-Situationen zu vermeiden.

Lieber patt als matt, sagen die (Beinahe-)Verlierer im Schach. In der Politik hingegen sind Patt-Situationen der wahre Schrecken. Denn patt heißt "nichts geht mehr", aber irgendwie muß es ja doch weitergehen, und so krebst und pfuscht halt jede Seite mißgelaunt vor sich hin und hofft insgeheim, daß etwas "von außen" passiert, um die festgefahrene Situation aufzulösen und frischen Wind in die Segel zu bringen.

Trotzdem nehmen die Patt-Situationen überall rapide zu. Bei den Bundestagswahlen in Deutschland gab es in den letzten Jahren gleich zweimal hintereinander ein faktisches Patt, und so auch kürzlich in Italien, in Mexiko, in Tschechien. Zwei Lager stehen sich gegenüber, die in den Augen der Wähler gleich schlecht sind, und das Wahlergebnis signalisiert folgerichtig Gleichstand, der ein Stillstand ist und nichts wirklich bewegt.

Den Ausschlag für die eine oder andere Seite geben Stimmenzahlen, die angesichts der Zahl der Wahlbeteiligten, Millionen und Abermillionen, glatt vernachlässigbar wären, etwa ein lausiges Abruzzendorf, dessen einer Kandidat die Tochter des Dorfschulzen verführt hat und deshalb "nicht mehr wählbar" war. Wäre es da nicht besser, man ließe bei Patt im Stile der alten Athener Urdemokratie das Los entscheiden?

Ähnliche Fragen stellen sich übrigens im Fußball, zumindest in den oberen Etagen und wenn sofortige Letztentscheidungen fällig werden. Die Weltmeisterschaft voriges Jahr hat es an den Tag gebracht: Die internationalen Spitzenmannschaften sind längst gleich gut bzw. schlecht, ihre "Riegel" lassen kaum noch normale Tore zu, so daß das Elfmeterschießen entscheiden muß. Was aber ist dieses Elfmeterschießen anderes als ein verschämter Losentscheid?

Früher, d.h. bis 1970, wurde bei Turnierspielen mit sofortigem Entscheidungsbedarf bei unentschiedenem Ausgang tatsächlich das Los geworfen. Erst der legendäre deutsche Schiedsrichter Karl Wald aus Frankfurt am Main hat das geändert; die Fifa akzeptierte seinen Vorschlag für ein finales Elfmeterschießen schnell, weil sie glaubte, das sei "sportlicher". Doch ist es das wirklich? Die Tüchtigkeit der Feldspieler jedenfalls, weitgehend auch die des Torwarts, ist im Entscheidungsschema à la Wald ausgeschaltet. Genau betrachtet entscheidet auch jetzt noch allein der Glücksfaktor.

Wie könnte ein Elfmeterschießen in der Politik aussehen? Nun, man könnte festlegen, daß bei einer Differenz zwischen den Wahlgegnern von unter einem oder einem halben Prozent im Parlament eine feierliche Verlosungs-Zeremonie stattfindet, unter ausdrücklicher Anrufung Gottes oder der Not des Vaterlands oder dergleichen. Das Triumphgefühl bei den so gewählten Siegern wäre dann entschieden gedämpft, die Bitternis bei den so Unterlegenen weniger bitter. Ein Klima der Sachlichkeit und der Verantwortung zöge ein.

Man sieht: Wenn schon von einem Spiel, dann könnte die moderne Politik viel mehr vom Fußball als vom Schach lernen. Karl Wald statt Garri Kasparow! Voraussetzung wäre allerdings die Gewißheit, daß Politik überhaupt etwas mit Spiel, ob nun Schach oder Fußball, zu tun hat. Die meisten Politologen verneinen das ja. Politik sei Gerangel um Macht, sagen sie. Die überall deklarierten politischen Regeln würden von den Akteuren letztlich nur widerwillig und contre cœur akzeptiert, damit die Verhältnisse nicht in nackte Gewalt und Diktatur ausarten.

Aber wie sagt Schiller? "Der Mensch ist nur wirklich frei, wenn er spielt." Der Satz ist wahr, und er gilt auch für die Politik. Wer als Machtinhaber lediglich Notwendigkeiten bedient, ist gar kein "richtiger" Politiker, er gleicht eher einem Maschinenwart und Gefängnisaufseher, also einem Diktator. Der echte Politiker spielt, er befolgt Regeln, er setzt bedachtsam-verwegen auf Gewinn und hofft darauf, daß ihm das Glück hold ist.

Eben deshalb sind Patt-Situationen so schrecklich für die Politik. Die eine Seite kann keinen Zug mehr machen, obwohl ihre Nummer eins gar nicht im Schach steht, "autonom" bleibt. Und die andere Seite kann auch keinen Zug mehr machen, denn zunächst wäre ja der eine dran, aber dessen Züge hat der andere dauerhaft blockiert. Das Spiel ist aus. Nur noch die Götter könnten entscheiden. Aber die sind im Regelwerk moderner Politik eben nicht vorgesehen.

In England galt ursprünglich die Regel, daß der, der das Patt herbeigeführt hatte, zum Verlierer erklärt wurde. Später, 1807, hob man die Anordnung auf, weil man erkannt hatte, daß beide Seiten letztlich gleich schuld an der Misere waren, so wie Merkel und Beck am aktuellen Patt in der hiesigen Politik. Patt = Doppelmatt. Das wird wohl auch Kasparow noch lernen müssen.


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