© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/07 27. April 2007

Nietzsches Bibliotheksbruder
Eine Neuauflage der Chamfort-Biographie von Claude Arnaud erinnert an den französischen Quergeist des 18. Jahrhunderts
Michael Böhm

Chamfort war der rätselhafte Souffleur der Weltgeschichte. Der nüchterne Abbé Sieyes verdankte ihm den Titel eines der wohl berühmtesten revolutionären Pamphlete: "Was ist der dritte Stand?", Georg Büchner plagiierte ihn, als er "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" forderte. Und wahrscheinlich geht auch Mirabeaus Bonmot, wonach Preußen "nur eine Armee mit einem Staate" sei, ebenfalls auf die Einflüsterungen des französischen Moralisten zurück.

Doch nicht nur wegen seiner vielen Aperçus verdient Chamfort heute Beachtung. Interessant ist vor allem das Schicksal dieses "berühmten Unbekannten" aus dem 18. Jahrhundert. Es ist nicht nur das jenes Mannes, der Ancien régime und Französische Revolution genauso zu verkörpern wie zu negieren scheint. In ihm offenbart sich - in freilich gesteigerter Form - auch das Dilemma des modernen Menschen, der zur Vernunft verdammt bindungslos umherschweift und sich verzweifelt in einen radikalen Individualismus flüchtet.

Claude Arnauds meisterhafte Biographie macht das auf irritierende Weise deutlich, auch wenn sie seine pathologische Seite nicht verhehlt. Denn das Leben von Sébastien Roch Nicolas (1740-1794), der sich später als Schriftsteller Chamfort nennen sollte, begann als "umgekehrtes Feenmärchen": Als Kind einer verheirateten Adeligen und eines Priesters aus Clermont wird er von seiner Mutter in die Familie des Bruders seines leiblichen Vaters gegeben. Der Bastard mit aristokratischen Wurzeln wächst bei einem einfachen Krämer auf. Schon früh sieht er sich deshalb als ein "besonderes Wesen" an, das zu niemandem gehört. Er brilliert als "bester Schüler Frankreichs" und läßt seine Kameraden die Überlegenheit jener Klasse spüren, die ihn verleugnet. Die Neigung zum Sarkasmus und giftigen Spott wird ihn bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen.

Doch der Plan, seinen "Geburtsfehler" durch Ruhm zu korrigieren, scheitert: Der junge, gefeierte Autor erkrankt infolge sexueller Ausschweifungen, sein Gesicht entstellt sich. Später wird er Opfer von Intrigen, erleidet literarische Mißerfolge, und die Académie française verweigert ihm die Aufnahme. Chamfort schwört mit 37 Jahren, nie wieder etwas zu veröffentlichen. Fortan führt er das Leben eines Misanthropen. In Salons polemisiert er gegen die Aristokratie, die ihm Herkunft und Talent unterdrückte, zieht gegen die Frauen zu Felde, die ihm die Gesundheit raubten, und attackiert das Christentum, das Selbstverleugnung und Obskurantismus predigt. Erst die Französische Revolution holt ihn aus seiner inneren Emigration. Das Gefühl, nicht "dazu" zu gehören, macht aus Chamfort einen begeisterten Republikaner - ihn, der zuvor so wenig für die Gleichheit übrig hatte.

Allerdings erweist sich die Revolution nicht als die große Sintflut, von der er insgeheim träumt und die die Menschheit erneuern soll. Als Intellektueller bleibt er der ausgesprochene Individualist, der er immer gewesen war. Sein Credo ist das einer absoluten Freiheit, die nur dem Ich verpflichtet ist und sich das Recht vorbehält, sich vom Leben loszusagen. "Der erste Schritt hierzu ist die Fähigkeit, nein zu sagen" heißt es in seinem bekanntesten Aphorismus. Jahrelang notiert der verbitterte Chamfort seine Gedanken jeden Abend auf kleine Zettel. Nach seinem Freitod werden sie als "Produits de la civilisation perfectionné" publiziert. Bis heute sind sie ein Kultbuch geblieben.

Eindrucksvoll läßt Claude Arnaud in seinem mit dem Prix de l'essai de l'Academie française ausgezeichneten Buch eine ebenso glanzvolle wie grausame Übergangsepoche wieder lebendig werden. Farbenreich schildert er ihre Protagonisten und Konflikte und vermag so etwas vom Geheimnis um den großen Nihilisten Chamfort zu lüften. Doch niemals erliegt er der Gefahr, seine Sujets zu denunzieren: Arnauds Kommentare sind selbst bei den bedrückendsten Fakten zurückhaltend und intelligent. Freilich hinkt die Übersetzung von Ulrich Kunzmann mitunter dem Original hinterher. Die zuweilen etwas langen Paranthesen mögen zwar für das Verständnis der historischen Zusammenhänge wichtig sein - aber sie strapazieren den ansonsten dicht gedrängten Stil. Hier hätte man sich mehr Mut zu kongenialer Interpretation gewünscht. Doch auch in seiner deutschen Version bleibt das Buch das großartig-beunruhigende Lebensbild von "Nietzsches Bibliotheksbruder".

Claude Arnaud: Chamfort. Die Frauen, der Adel und die Revolution. Matthes & Seitz , Berlin, gebunden, 523 Seiten, 39,80 Euro

Foto: Nicolas-Sebastian Roch, genannt Chamfort, um 1770: Die Französische Revolution holt ihn aus seiner inneren Emigration


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