© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/07 04. Mai 2007

CD: Klassik
Emanzipation
Andreas Strittmatter

Horribile dictu! Man stelle sich vor, Marcel Reich-Ranicki würde Günter Grass doch noch heiligsprechen, indem er - Zauberberg-Weihen für einen Entzauberten - Passagen aus dem Werk des deutschen Zuchtmeisters auf eine Stufe mit dem Schaffen Thomas Manns erhöbe. Johannes Brahms wurde eine vergleichbare Ehre in der Tat zuteil, als der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick dem Finale der Brahms'schen Symphonie c-moll bescheinigte, daß "kein Komponist den größten Schöpfungen Beethovens so nahe gekommen" sei. In Anlehnung an die neun Symphonien Beethovens war Brahms' Erste für den Dirigenten Hans von Bülow daher auch schlicht "die Zehnte".

Gut 20 Jahre rang Johannes Brahms um seine erste Symphonie. Als sie 1876 in Karlsruhe aus der Taufe gehoben wurde, hatten andere symphonisch besetzte Werke wie das erste Klavierkonzert (1853) oder das Deutsche Requiem (1868) längst die Lebenswelt des Bürgertums erobert. In Sachen Symphonie fühlte sich der Komponist jedoch von Beethoven verfolgt: Man höre "immer so einen Riesen hinter sich marschieren", schrieb Brahms an den Dirigenten Hermann Levi und trat die Flucht nach vorn an. Die Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68 ist keineswegs Beethovens "Zehnte" (Bülows Diktum lag Brahms sauer auf der Leber), sondern ein Werk der Emanzipation. Daran ändert die als dramatische Reminiszenz an Beethovens Fünfte Symphonie verstandene Einleitung mit ihren unerbittlichen Paukenschlägen ebensowenig etwas wie der Umstand, daß Brahms als Hauptthema des Finalsatzes (Anklänge daran finden sich bereits im dritten Satz) eine Passage einführt, die hörbar jenen Noten abgelauscht ist, zu denen der Chor in Beethovens Neunter vom Zauber singt, der wieder binde, "was die Mode streng geteilt". Auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit des thematischen Materials angesprochen, bemerkte Brahms dann auch: "Jawohl, und noch merkwürdiger ist, daß das jeder Esel gleich hört."

Den absichtsvollen Anklang an Beethoven hört man auch bei Christian Thielemann und den Münchner Philharmonikern, obgleich sich der Dirigent sonst alle Mühe gibt, die Symphonie aus der Beethoven-Tradition herauszuschlagen. Dafür läßt sich Thielemann mit einer Spieldauer von gut 51 Minuten ziemlich viel Zeit - Günter Wand etwa benötigt in seiner Referenzaufnahme von 1983 nur einen gängigen Durchschnittswert von rund 43 Minuten. In Thielemanns Interpretation klingt dafür mit Bruckner ausgerechnet ein Brahms-Antipode erster Güte durch. Nicht zuletzt thematisch und bautechnisch fragmentiert anmutende Passagen der Symphonie, wie sie besonders deutlich in den Binnensätzen zu finden sind, behandelt Thielemann wie eine Bruckner-Partitur, wenn er Steigerungen und Brüche auf einen langen Atem legt und die gesamte dynamische Bandbreite des Orchesterapparats bis ins mehrfache Piano hinein stutzt. Die mit warmem Klangbild musizierenden Münchner Philharmoniker folgen ihrem Chefdirigenten bei der Feier dieses romantischen Hochamtes in erstklassiger Manier.

Ein Hochamt? Der Gedanke liegt nahe. Denn das Finale exponiert zwar das benannte Beethoven-Thema, greift aber an entscheidender Stelle zu anderem Ideengut. Die Symphonie mündet nicht im Menschheits-Jubel, sondern präsentiert statt dessen einen Choral, nachdem ein den Alpen abgelauschte Hornsignal (Brahms 1868 an Clara Schumann: "Also blus das Alphorn heut") dem Finale eine entscheidende Wendung gibt. An die Stelle der Chimäre einer aufgeklärten Autonomie tritt der Appell an Natur und Religion. Insofern hat Thielemann recht, wenn er die Partitur nicht als Reminiszenz an quasi Gestriges, sondern als ein Werk des Aufbruchs liest. Eine gelungene Einspielung von Beethovens Egmont-Ouvertüre rundet die Scheibe ab.


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