© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Kinder an die Macht
Bildungspolitik: Die Sängerin Nena will in Hamburg eine Schule gründen, in der die Schüler darüber entscheiden, was sie lernen
Arnold Steiner

Wir gründen eine neue Schule: eine Schule, die eine Antwort auf die Erfordernisse der Wissensgesellschaft für das Lernen im 21. Jahrhundert gibt." Mit diesen Worten leiten die Initiatoren der "Neuen Schule Hamburg" ihr Konzept für ihre private Neugründung ein, die demnächst in der Hansestadt unter tatkräftiger - und vor allem medienwirksamer - Mithilfe der Musikerin Nena Kerner eröffnet wird.

Hier soll eine völlig neue Idee von Schule verwirklicht werden, die sich die ehemalige musikalische Vorreiterin der Neuen Deutschen Welle der achtziger Jahre und ein paar Mitstreiter einfallen ließen. Für 65 Schüler wurde eine alte Villa gekauft, in der ab Herbst von Klasse eins bis zehn durch drei Voll- und zwei Halbtagslehrer sowie drei weitere Mitarbeiter ganztags unterrichtet werden soll. Die Schule hat keine voneinander getrennten Klassen und keine festen Unterrichtszeiten, so daß jedes Kind täglich entscheiden muß, wann und in welche Klasse es zur Schule gehen möchte. Grundpfeiler dieses exotischen Konzepts sind absolute Basisdemokratie und völlige Freiheit. Die Auffassung, daß Kinder selbst am besten wissen, was für sie gut ist und eigenverantwortlich instinktiv richtig handeln, ist den sogenannten "Sudbury"-Schulen entliehen, die weltweit in 31 Schulen auf die Wißbegierde der Kinder statt auf Lehrpläne setzen.

Die "Neue Schule Hamburg" soll nach dem Willen der Initiatoren keine "Eliteschule im Sinne bestimmter Bildungsschichten", sondern eine "realitätsnahe Mischung aus sozialer Herkunft und Kulturen" werden. Es wirkt allerdings befremdlich, daß die Schulerfinder annehmen, aus einer Mischung aus unterschiedlichen Kulturen und sozialer Herkunft könne keine elitäre Bildungsschicht hervorgehen. Diese Aussage ist gleichzeitig ein Abgesang auf jeglichen Anspruch an Leistung und Erfolg. Hat man sich von diesen Grundfesten der Gesellschaft erst einmal verabschiedet, fällt es auch nicht mehr schwer, das Konzept der Schule zu verstehen: Daß Kinder bewußt und zielgerichtet gefordert werden müssen, um Leistung zu erbringen und nur so an ihren Aufgaben wachsen können, leuchtet den Pädagogen nicht ein. Sie gehen statt dessen davon aus, daß die ABC-Schützen einen fertigen Lebensplan haben, in den auf keinen Fall durch zu viele feste Strukturen oder sonstige Regeln und Vorgaben lenkend eingegriffen werden darf. Um diese individuellen Lebenspläne zu erhalten, hat sich die Schule zur Aufgabe gemacht, "einen geschützten Raum zu bieten, in dem sich jeder Schüler seinen Interessen widmen kann".

Bevormundung soll verhindert werden

Eine Bevormundung der Kinder durch die Lehrer soll durch die bedingungslose Basisdemokratie verhindert werden. In der "Teilzeitlebensgemeinschaft" dürfen alle Mitglieder der Schule, also jeder Schüler und jeder Lehrer, mit gleichberechtigter Stimme alle Entscheidungen auf der regelmäßig tagenden Schulversammlung treffen. Frei nach dem Motto von Nenas Musikerkollegen Herbert Grönemeyer "Gebt den Kindern das Kommando" werden auf dieser Versammlung auch grundlegende Dinge wie die Einstellung von Lehrern und die Finanzplanung geregelt. Auch der Lehrplan wird von den Schülern bestimmt. "Kurse finden auf Verlangen der Schüler statt", heißt es dazu im Schulkonzept. Kritiker werfen Nena und ihren Freunden daher vor, sie degradierten die Lehrer zu Marionetten, die die Wünsche der Schüler umzusetzen haben.

Nach Nenas Vorstellung kommt es in der komplexer werdenden Welt immer weniger auf Reproduktion von Routinewissen an - und hier werden schnell die Grenzen dieses Schulkonzepts deutlich: Die finanziell unabhängige Sängerin vergißt nämlich in all ihren Idealvorstellungen, daß es im harten Alltag, in dem sich auch die Abgänger ihrer Spaßschule behaupten müssen, gerade auf dieses Routinewissen ankommt. Nur wer dieses als sicheres Rüstzeug in seiner Schullaufbahn mit auf den Weg bekommen hat, kann sich durch zusätzliches Spezialwissen hervortun und erfolgreich sein. Die Masse der Absolventen wird sich gerade nicht als Schöngeister verdingen können, sondern auf eine Realität treffen, in der sie sich zwangsläufig in ein Korsett aus Über- und Unterordnungsverhältnissen zwängen müssen. Wie soll ein junger Mensch dort bestehen, wenn er nicht früh an dieses System herangeführt wird? Die Eltern und Schulmacher werden sich irgendwann fragen lassen müssen, wie sie es verantworten konnten, Schulkinder als Versuchskaninchen zu mißbrauchen, um ihre eigenen Vorstellungen einer eingebildeten heilen Welt ausleben zu können.

Die Macher der neuen Schule stützen ihr System auf die Annahme, Kinder und Jugendliche seien befähigt, die Verantwortung für ihr Lernen selbst zu übernehmen. Sie gehen davon aus, daß in jedem Menschen das Grundbedürfnis verankert ist, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, um als aktives Mitglied unserer Gesellschaft teilnehmen zu können.

Folgt man dieser Vermutung, stellt sich als nächste Frage, ob sich nicht viele Jugendliche unserer Gesellschaft mit rudimentären Fähigkeiten zufriedengeben und ob es nicht gerade Aufgabe des Bildungssystems ist, diesem Trend massiv entgegenzuwirken, statt auf den guten Willen zu vertrauen. Wer sich einen durchschnittlichen Zehnjährigen ansieht, der wird feststellen, daß die Kinder häufig anderes im Kopf haben, als eigenverantwortlich Hausaufgaben zu machen.

Da die Teilnehmer der Ersatzschule keinen Abschluß erwerben können, müssen sie diese an staatlich anerkannten Schulen nachholen. Spätestens dort werden sie unter Beweis stellen müssen, daß der Versuch einer antiautoritären Schule geglückt ist und sie auch unter normalem Schuldruck die geforderten Leistungen erbringen können.

Auch die zukünftigen Schüler kommen in der Informationsbroschüre der "Neuen Schule Hamburg" zu Wort. Dort möchte Lukas (9 Jahre) die Indianersprache lernen, und Jonathan (10 Jahre) mag die Lehrer seiner jetzigen Schule nicht, weil sie ihn "anmachen", wenn er nix gemacht hat. Gespannt darf man also abwarten, wie die Kinder eigenverantwortlich mit ihrer neu gewonnen Freiheit umgehen werden.

Foto: Nena (2. von links) und ihre Mitstreiter vor dem künftigen Schulgebäude: Ambitionierte "Teilzeitlebensgemeinschaft"


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