© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Die falschen Befreier
Estland: Der Streit um ein sowjetisches Ehrenmal erschüttert die Baltennation / Symbol der Unterdrückung
Detlef Kühn

Estland und Deutschland haben vieles gemeinsam. Beide Staaten sind Mitglied der EU und der Nato. Beide standen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz oder teilweise unter sowjetischer Herrschaft. Und beide haben auf ihrem Territorium zahlreiche Denkmäler zur Erinnerung an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Spätestens beim Umgang mit diesen Zeugnissen der Zeitgeschichte scheinen die deutsch-estnischen Gemeinsamkeiten jedoch aufzuhören.

Die Deutschen verfolgen die Vorgänge um die Verlegung eines Sowjetdenkmals (JF 19/07) in Reval (Tallinn) mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis. Wir machen doch auch nicht soviel Wind um das Ehrenmal im Berliner Tiergarten oder den riesigen Rotarmisten in Treptow, denken viele. Warum nehmen die Esten nicht mehr Rücksicht auf die Gefühle der Russen?

Über vier Jahrzehnte unter sowjetischer Herrschaft

Ja, warum. Abgesehen davon, daß taktisch-politische Überlegungen im Umgang mit dem großen Nachbarn auch vielen Esten nicht fremd sind - die Entscheidung zur Verlegung des Denkmals aus der Innenstadt Revals an den Stadtrand fiel im Parlament nur mit knapper Mehrheit -, liegt die Antwort in der Einstellung zur jeweils eigenen Nation. Wenn manche Geschichtsphilosophen die Deutschen, etwa im Vergleich zu Frankreich, als "verspätete Nation" betrachten, was als Anzeichen für eine geringere Legitimation gemeint ist, dann gilt dies erst recht für die baltischen Nationen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich das Bauernvolk der Esten im Rahmen des "Nationalen Erwachens" zu einer modernen Nation mit Hochsprache, Nationalkultur und Geschichtsmythen gewandelt.

1918 erreichten die Esten, die mit den Finnen sprachlich und kulturell eng verwandt sind, sogar den eigenen unabhängigen Nationalstaat, von dem vorher im Russischen Zarenreich nur wenige Optimisten zu träumen gewagt hatten. Er bestand nur gut zwanzig Jahre, bewies aber den Esten selbst ebenso wie der übrigen Welt, daß auch Nationalstaaten sehr kleiner Völker lebensfähig sein können und somit Existenzberechtigung haben. Es war nicht die Schuld der Esten, daß ihr Staat schon 1940 ein gewaltsames Ende fand, als - Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 - sowjetische Truppen in das Baltikum einrückten und zusammen mit einheimischen Kommunisten der staatlichen Selbständigkeit ein gewaltsames Ende bereiteten. Während die seit Jahrhunderten dort ansässigen Baltendeutschen 1940/41 "heim ins Reich" geholt wurden, erlebten die etwa 1,5 Millionen Esten den blanken Horror. Zehntausende, vor allem die Elite, wurden nach Sibirien deportiert. Der Mittelstand, die wichtigste Stütze des Nationalstaates, wurde entmachtet und Hunderttausende von Sowjetrussen, zuerst Militär, später auch Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion, in dem kleinen Land angesiedelt. In den Hauptstädten Reval und Riga gerieten die Titularvölker von Estland und Lettland nach 1945 sogar in die Minderheit. Von der Bevölkerung Estlands sind derzeit etwa 30 Prozent Russischsprachige, in Reval etwa 45 Prozent.

Daher war es war kein Wunder, daß die Wehrmachtstruppen 1941 von vielen Esten (und Letten) als Befreier empfangen wurden. Nur von den Deutschen war Schutz vor sowjetischer Barbarei zu erwarten. Dies bedeutete nicht unbedingt Identifikation mit nationalsozialistischen Zielen. Aber die Realität forderte ihren Tribut, weil die Westmächte weder willens noch in der Lage waren, den baltischen Völkern zu Hilfe zu kommen. Als die Wehrmacht 1944/45 das Baltikum wieder räumen mußte, gingen auch viele Esten mit auf die Flucht nach Westen. Sie bildeten später die estnischen Exilgemeinden in Schweden, den USA und anderen Ländern. Estland selbst erlebte eine Neuauflage des sowjetischen Terrors, der die Esten der ganz konkreten Gefahr der Auslöschung ihres Volkes aussetzte. Seitdem gilt ihnen ein sowjetisches Ehrenmal im Land vor allem als Symbol der Unterdrückung.

Eine Erfahrung blieb den Esten allerdings erspart, die für die Deutschen nach dem Kriege prägend wurde: Sie wurden zwar kommunistisch indoktriniert, aber (noch) nicht "umerzogen". Deshalb blieb ihr Nationalgefühl unbeschädigt. Auch die Hoffnung auf Wiederbelebung des unabhängigen Estlands starb nicht. Sie gab dem estnischen Volk die Kraft, der radikalen Russifizierung zu widerstehen. Und in den Jahren 1989 bis 1991, als die Schwäche der Sowjetunion unübersehbar war, ergriff es die Chance, seinen Nationalstaat erneut zu etablieren.

Kommunistisch indoktriniert, aber nicht "umerzogen"

Er wird zwar als Teil des zusammenwachsenden Europa begriffen, von dem man sich auch Schutz vor dem "russischen Bären" erhofft. Aber niemand träumt, wie manche Deutsche, vom Aufgehen des eigenen Volkes in einer multikulturellen EU-Bevölkerung. Es wäre eine große Enttäuschung für die Esten, wenn EU und Nato sie gegenüber russischem Druck erneut im Stich ließen. Das erklärt auch die ungebrochene US-Begeisterung der Esten - obwohl der Rückhalt aus Washington im Denkmalsstreit eher lau ist. Der Beschluß über die Verlegung des Sowjetdenkmals sei "eine Angelegenheit der Regierung Estlands", erklärte Tom Casey vom US-Präsidialamt.

Denn auch die estnische "Schutzmacht" fordert eine Neubewertung der Geschichte (JF 25/02). Vor fast genau fünf Jahren rügte der damalige US-Botschafter Joseph Michael DeThomas öffentlich die Tatsache, daß es in Estland noch keinen besonderen Holocaust-Gedenktag gebe. Damals antworteten estnische Kommentatoren, es gebe doch den 14. Juni (den Jahrestag der Massendeportationen durch die Sowjets 1941), der als Gedenktag für alle Opfer von Fremdherrschaft und Gewalt begangen werde. Durch den EU-Beitritt wurde DeThomas' Forderung inzwischen erfüllt.

Foto: Russin vor Revaler Sowjetdenkmal: Starker Druck aus Moskau


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