© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Der Wächterrat
Meinungsmacht: Der Zentralrat der Juden beansprucht die Deutungshoheit
Doris Neujahr

Im 21. Jahrhundert geht es schneller zu als im Mittelalter. Nicht drei Tage wie Heinrich IV. in Canossa, nur knapp zwei mußte Günter Oettinger warten, dann wurde sein Flehen um ein klärendes Gespräch vom Zentralrat der Juden in Deutschland erhört, nachdem dieser am 15. April seinen Rücktritt als Ministerpräsident gefordert hatte.

Die Netzeitung verbreitete am 17. April die Meldung: "'Ein Gespräch mit der Führung des Zentralrats kann jetzt stattfinden, aber nicht mit dem Ziel der Absolution', sagte der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer (...). Das könne der Ministerpräsident 'nur durch eigene, detaillierte öffentliche Klarstellung und Distanzierung' erreichen. Gleichwohl wertete Kramer die Entschuldigung als Beleg für die 'Abkehr und Distanzierung' von Oettingers Position zu dem früheren Regierungschef Hans Filbinger. Die von ihm erhobene Rücktrittsforderung an Oettinger sei 'damit vom Tisch', sagte der Zentralrats-Generalsekretär."

Weiter hieß es, Kramer warne allerdings davor, nun einfach zur Tagesordnung überzugehen. Die Debatte der letzten Tage habe auch die Demokratie in Deutschland beschädigt. Er erwarte, daß sich der baden-württembergische Ministerpräsident "künftig aktiv an der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Revisionismus beteiligt". Laut Netzeitung lobte der Zentralrats-Generalsekretär zudem den Einsatz von Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende habe Führungsstärke bewiesen, so Kramer. Sie habe "die Affäre beendet, ohne einen 'Schlußstrich' anzuordnen".

Kramers Sätze atmen das Bewußtsein seiner Macht und das Behagen daran. Der Anspruch, im Namen der "Demokratie in Deutschland" zu sprechen, geht mit dem Hochgefühl priesterlicher Kompetenz einher, die mit väterlich-erzieherischer Strenge ausgeübt wird. Die Erteilung des Bußsakraments durch Absolution wird in Aussicht gestellt, aber aufgeschoben. Der Ministerpräsident muß sie sich erst verdienen durch Selbstgeißelung und tätige Reue, indem er politische Erwartungen erfüllt.

Doppeldeutig klingt Kramers Lob für die Kanzlerin, die dadurch, daß sie die Berechtigung seiner Oettinger-Kritik anerkannte, "Führungsstärke" bewiesen habe. Andernfalls wäre sie also schwach und ihrem Amt vielleicht gar nicht gewachsen gewesen? Der Hinweis schließlich, daß Merkel ein Ende der Affäre, aber keinen "Schlußstrich" herbeigeführt habe, war ein Signal an die Union und ihre Vorsitzende, sich für weitere Forderungen bereit zu halten. Kurz darauf verlangte Kramer die Schließung von Weikersheim.

Das wirft die Frage nach den Machtverhältnissen in Deutschland auf. Die Kanzlerin ist wegen ihrer öffentlichen Oettinger-Rüge vom brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm des "parteischädigenden" Verhaltens geziehen worden, doch führt dieser Vorwurf auf ein Nebengleis. Merkel verdankt ihre Position dem Gespür für Machtkonstellationen und ihrer Fähigkeit, rücksichtslos auf sie zu reagieren. Ihr Verhalten in der Causa Oettinger ist Beweis genug, daß das Gefühl der Stärke, das aus Kramers Sätzen spricht, eine reale Basis besitzt.

Macht bedeutet nach Max Weber "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf die Chance beruht". Die Frage nach den Machtgrundlagen des Zentralrats kann in einer Demokratie von der nach ihrer Legitimation nicht getrennt werden. Der Zentralrat ist eine Interessenvertretung, die offiziell rund 100.000 Mitglieder repräsentiert. Selbst wenn seine Vernetzung in Institutionen, Parteien, Stiftungen, Rundfunkräten usw. in Rechnung gestellt wird, ist sein Einfluß weder mit formalen demokratischen Spielregeln noch unbestreitbarer Sachkompetenz zu erklären. Den Verdacht eines illustren Gremiums mit herausragender intellektueller Befähigung weiß die Präsidentin Charlotte Knobloch regelmäßig zu zerstreuen. Andere Präsidiumsmitglieder operieren zwar auf höherem Niveau, doch Momente einer von Ehrfurcht getragenen Zustimmung, die überlegene Geister hervorrufen, wollen sich auch bei ihnen nicht einstellen.

Wer dem Zentralrat eine exklusive moralische Kompetenz unterstellt, muß sich die Frage vorlegen, ob auch Interventionen, die falsch, banal oder von purem Eigeninteresse getragen sind, tatsächlich eine besondere moralische Qualität beanspruchen können. Mit "Moral" ist in Wahrheit ja auch etwas anderes gemeint: Der Zentralrat agiert als Verwalter eines historischen Opferschicksals. In dieser Eigenschaft wird ihm ein geistig-moralischer Kredit eingeräumt, der von den Deutschen aufgrund ihrer "besonderen historischen Verantwortung" aufzubringen ist. Dieser beliebig beanspruchbare Kredit wird in politischen Einfluß investiert und wirft Renditen ab, die ertragreich reinvestiert werden.

Geschäftsgrundlage ist die Geschichtspolitik der letzten Jahrzehnte, die den Zentralrat in eine Ausnahmeposition versetzt hat. Je mehr das jüdische Opferschicksal enthistorisiert und in den Rang des Absoluten und eines Gott-Substituts entrückt und je bedingungungsloser im Gegenzug die Täterqualität ("Tätervolk") der Deutschen formuliert wird, desto größer wird das moralische Gewicht des Zentralrats und folglich sein politischer Einfluß. Es liegt in der Logik des Machterhalts, daß er sukzessive auf Themenfelder und Bereiche ausgreift, die nicht seines Amtes sind. Ohne demokratische Legitimation und sachliche Zuständigkeit wächst er so in die Rolle eines Wächterrats - vergleichbar den Mullahs im Iran - hinein. Das Unbehagen daran hat der stellvertretende Vorsitzende der baden-württembergischen Landesgruppe im Bundestag, Norbert Barthle, in die Frage gefaßt: "(...) ob der Zentralrat in allen Fragen des Dritten Reichs die alleinige Deutungshoheit hat"? Inzwischen "bedauert" Barthle seine Worte ...

Allenfalls gewundene Detailkritik wird laut, für die bevorzugt jüdische Vertreter engagiert werden. Das verstärkt den Eindruck, daß Kritik am Zentralrat ein Exklusivrecht ist und der Versuch, in eine gleichberechtigte Debatte mit ihm einzutreten, ein unkalkulierbares Risiko darstellt. Für den Zentralrat muß jedoch der gleiche Minimalkonsens gelten wie für die Vertreter des Islam (nicht zufällig nennt die neue Moslem-Vertretung sich "Zentralrat"): Das Grundgesetz kennt den Präsidenten, das Parlament, die Regierung und das Verfassungsgericht. Letzteres schützt die Grundrechte und demokratische Willensbildung. Von bei- oder übergeordneten Mullahs ist nirgendwo die Rede.

Foto: Charlotte Knobloch, Vorsitzende des Zentralrats der Juden, ihr Vize Salomon Korn und CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen