© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/07 11. Mai 2007

Neun Thesen zur Erziehung
von Karlheinz Weißmann

Daß Erziehung ein Thema ist, wird niemand bestreiten. Man hat es dauernd und bis zum Überdruß damit zu tun. Talkshows und höherkarätige Gesprächsrunden, Themenausgaben der politischen Magazine und Fernsehberichte, regelmäßige Erschütterungen der Bevölkerung über Pisa und sonstige Studien, der Boom auf dem Nachhilfesektor und bei Benimm-Kursen, die hohe Auflage von Handbüchern zur Pflege der Kleinsten sowie "Supernannys" für schwierige Kinder und Hunde, das alles kann nur so verstanden werden.

Insofern bedarf das Folgende keiner Rechtfertigung, der Rechtfertigung bedürfen allerdings die insgesamt neun Thesen, und zwar deshalb, weil sie ungewohnt sein werden.

1. Erziehung ist etwas zwischen Handwerk und Kunst. - Handwerk insofern, als Übung den Meister macht, Kunst insofern, als man von ihr - in Anlehnung an eine Formel von Hiob Praetorius - zwar Proben, aber keine Prüfungen ablegen kann. Das mit der Übung leuchtet mindestens denen noch ein, deren Erziehung bis zu den sechziger Jahren abgeschlossen war. Das sind die, die eine Erinnerung daran haben, daß so ziemlich jeder zu erziehen wußte. Wesentlich war das Element der Erfahrung, die dazu diente, das Bewährte zu tradieren, und das Sich-nicht-mehr-Bewährende auszuscheiden. Das heißt, daß es durchaus Veränderungen im Erziehungsstil gab. Luthers Bitterkeit über seine Mutter, die ihn "um eine Nuß" blutig schlug, deutet solchen Wandel im Lauf der Zeiten an. Wer noch in der Nachkriegszeit mit der brutalen antiken Sentenz aufgezogen wurde: "Nur ein geschundener Mensch ist ein erzogener Mensch", dürfte schon zu den Ausnahmen gehört haben. In dem Maß, in dem sozialer Druck nachließ, entspannte sich auch der Erziehungsstil.

2. Das Gesagte verpflichtet zum Mißtrauen gegenüber den vielen Unberufenen, die sich zur Erziehung äußern. - Die Empfehlung richtet sich vor allem gegen die wissenschaftliche Pädagogik. Es sei hier eine persönliche Bemerkung gestattet: Ich habe nie einen Vertreter der Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin erlebt, der mich intellektuell beeindruckt hätte. Während meines Lehramtsstudiums betrachtete ich mit den meisten meiner Kommilitonen das "Begleitfach" als eine ebenso dubiose wie fruchtlose Veranstaltung, keinen Moment kam mir in den Sinn, daß im Schulalltag nützlich sein könnte, was einem da präsentiert wurde. Das liegt auch an der allgemeinen intellektuellen Schwäche der "Sozialwissenschaften", aber Ideologieanfälligkeit und opportunistische Neigung sind in der Pädagogik doch besonders ausgeprägt. Es verschlägt einem den Atem, wenn man beobachtet, wie dieselben Leute, die gestern noch der Meinung waren, die Schule solle eine gesellschaftliche Utopie vorbereiten und die Demontage des Leistungsprinzips betreiben, heute Wirtschaftsfremdheit beklagen und einer Evaluation nach Marktprinzipien das Wort reden.

3. Der Vorbehalt gegenüber professioneller Pädagogik soll aber nicht so verstanden werden, als ob es gar keinen Begriff von Erziehung braucht. - Grundsätzlich ist "Erziehung" von "Bildung" zu unterscheiden. Bildung setzt immer voraus, daß im "pädagogischen Bezug" (Herman Nohl) dem zu Erziehenden Möglichkeiten der Entfaltung eröffnet werden; ein denkbarer Ursprung des Wortes "Bildung" liegt in der Rede Meister Eckharts über die Notwendigkeit, das Bild Gottes im Mensch nachzuschaffen. Jedes Bildungskonzept muß annehmen, daß es im Menschen einen Personkern gibt, der grundsätzlich unverlierbar, aber nicht schon fertig ist, sondern der Entfaltung bedarf; Bildung ist insofern ein Prozeß, der den Menschen zu einer Vervollkommnung führt, die von ihm selbst gewollt sein muß und von außen gefördert werden kann, wobei die Förderung allerdings auch in einer bewußten Hemmung liegen darf, ein Problem, das auf die Erziehung verweist.

Erziehung setzt den Akzent auf die Tätigkeit des Erziehenden, auf die von ihm ergriffenen Maßnahmen, um den Menschen zur "Durchordnung des eigenen Daseins" (Friedrich Tenbruck) fähig zu machen. Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß solche Erziehung niemals sicher sein kann, ihre Zwecke zu erreichen. Selbst wenn dem Erzieher alle Möglichkeiten der Einflußnahme offenstünden, bliebe nicht nur die Frage, ob eine derartige Erziehung wünschenswert sei, es bliebe auch eine Menge an Unwägbarkeiten im Hinblick auf das Verhalten des Zöglings.

4. Man kann nicht nicht erziehen. - Ein wichtiger Grund für die Unkalkulierbarkeit des Erziehungsprozesses liegt in der Macht der "heimlichen Erzieher". Das ist ein Begriff, der ursprünglich aus der Gesellschaftskritik der Neuen Linken stammt, aber seinen guten Sinn hat. Denn er bezeichnet treffend jene Vielzahl von Einflußgrößen, die auf die Vorstellungen und das Verhalten des Menschen vom Kindes- bis zum Greisenalter einwirken.

Das gilt vor allem für die Gegenwart, in der alle einer solchen Menge von Bildern und Lauten, Simulationen, Impulsen und Informationen ausgesetzt sind wie zu keinem früheren Zeitpunkt. Einer der wenigen, die ich vom allgemeinen Verdikt gegen die universitäre Pädagogik ausnehmen würde, Wolfgang Brezinka, stellte ganz zu Recht fest: "Es kommt viel mehr auf indirekte Erziehung an als auf direkte."

5. Der aussichtsreichste Weg zu erfolgreicher Erziehung ist die Orientierung am persönlichen Vorbild. - Das ist bei weitem keine neue Einsicht, sondern eine, die gelegentlich wohl verdrängt werden kann, aber nach gewisser Zeit quasi naturgesetzmäßig wiederkehrt. "Auf die Ganzheit des Zöglings wirkt nur die Ganzheit des Erziehers wahrhaft ein, seine ganze unwillkürliche Existenz", hat Martin Buber einmal das hier Gemeinte zusammengefaßt. Dabei ist das zuerst deskriptiv gemeint. Jeder, der schon einmal mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hatte, sei es als Elternteil, als Betreuer oder in einem Erziehungsberuf, wird erleben - und gelegentlich darüber erschrecken -, wie aufmerksam die Zöglinge wahrnehmen, was den Erzieher im Ganzen ausmacht, Eigenheiten, Stärken und Schwächen, Gewohnheiten und Ticks, der ganze Habitus wird zu Beginn eher unbewußt wahrgenommen und unterliegt bald der systematischen Beobachtung.

Man kann die Folgen, wenn man will, auch empirisch untersuchen, wie das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das vor Jahren herausfand, daß Schüler durch pädagogische Moden und Methodenvielfalt kaum zu erreichen sind; sie bestimmen die Güte des Unterrichts nach der Güte des Lehrers, und dafür spielt wiederum die Aktualität des Konzepts keine Rolle, es geht nur um Authentizität.

6. Nach Lage der Dinge ist Erziehung nur möglich, wenn der Erzieher über Autorität gebietet. - Daß Erziehen Autorität voraussetzt, liegt auf der Hand; Überlegenheit des Erziehers in der Stellung gegenüber dem Zögling ist unabdingbar. Jede prinzipiell antiautoritäre Haltung muß deshalb erziehungsfeindlich sein. Das ist aber nicht das entscheidende Problem. Das liegt vielmehr in der Annahme der Antiautoritären, daß Autorität eine Selbstverständlichkeit ist, quasi naturwüchsig. Dagegen spricht indes schon die große Zahl von Autoritätskrisen, die die Geschichte kennt.

Eine davon wurde Ende der zwanziger Jahre durch den Zusammenbruch der Weimarer Republik ausgelöst. Damals erschien das Buch "Wider die Ächtung der Autorität" des Theologen Friedrich Gogarten. Gogarten vertrat eine Relationsontologie, die im Hinblick auf den Menschen betonte, daß dieser nur in Beziehungen sein könne, nicht aber für sich selbst. Er gründete die Autorität deshalb auf das Prinzip der "Hörigkeit", abgeleitet vom "Hören": Wem nicht zugehört wird, der hat keine Autorität, wer nicht hören will, sondern fühlen, der mißachtet die gegebene Autorität. Das heißt natürlich, daß ein elementarer Zusammenhang zwischen "Hören" und "Ge-Horchen" besteht. Autorität, so Gogarten, liegt dann vor, wenn ich einen anderen dazu bringen kann, meinem Willen zu folgen, ohne direkten Zwang auszuüben. Die Einsetzung von Autorität ist insofern ein entscheidender Schritt in der Humanisierung des Erziehungsprozesses, denn sie erweitert den Kreis der Mächtigen von den Starken auf die Klugen.

Daß das Wort Autorität heute einen so negativen Beigeschmack hat, hängt damit zusammen, daß es systematisch denunziert wurde. Diese Denunziation hat eine ganze Reihe von ideologischen Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Im Kern geht es aber darum, daß Autorität ein "männlicher" Wert ist. Als vorläufige Begründung mag reichen, daß schon die Erziehung von Männern sehr viel mehr mit der Erzwingung von Gehorsam und der Neigung zur Auflehnung zu tun hat als die Erziehung von Frauen.

7. Erziehung bedarf der Institutionen. - Es hat sich in dem eben Gesagten schon angedeutet, daß die Autorität und damit die Erziehung nicht nur situativ gedacht werden kann. Beide sind auf Institutionen angewiesen. Als Institution wird hier jede auf Dauer gestellte und formalisierte menschliche Einrichtung bezeichnet, die darauf abzielt, das individuelle wie das kollektive Verhalten in Form zu bringen und in Form zu halten.

Das Wesen der Institution ist der Vernunft durchaus einsichtig, allerdings genügt die Vernunft nicht, Institutionen zu gründen. Die Griechen glaubten wie viele antike Völker ursprünglich, daß sie von den Göttern oder götterähnlichen Heroen gestiftet wurden. Die Stiftung einer Institution ist ungleich schwerer zu bewerkstelligen als ihr Abbruch. Wir haben aber im Rahmen dessen, was in den letzten Jahrzehnten als "Fundamentalliberalisierung" (Jürgen Habermas) vollzogen wurde, einen dramatischen Abbruch des Institutionellen erlebt, dessen Konsequenzen sich heute erst ganz deutlich abzeichnen.

8. Die Krise der Erziehung ist eine totale. - Das Gemeinte sei hier an drei Beispielen illustriert. Erste Szene, im Kindergarten meiner Tochter. Ein kleiner Junge steht mit trotzigem Gesichtsausdruck vor der Erzieherin und lehnt sich dabei an seine Mutter. Die Erzieherin erklärt, daß er einige Kinder geschlagen und getreten habe, daß das nicht zum ersten Mal passiert sei und nun Konsequenzen gezogen werden müßten. Darauf die Mutter: "Na, das war aber auch nicht lieb von dir, daß du das gemacht hast, sag, daß du das nicht wieder tun willst." Kind schweigt, der trotzige Gesichtsausdruck verstärkt sich. Erneut die Mutter: "Na siehst du das denn nicht ein, daß man das nicht machen darf?" Kind schweigt immer noch usw. usf. Schließlich geht man auseinander, die Kindergärtnerin sichtlich enttäuscht, aber auch resigniert, dem unfreiwillig Zuhörenden sagt sie nur: "Ach wissen Sie, wie oft ich das erlebe."

Zweite Szene, Mütter unterhalten sich auf dem Spielplatz, es geht um die bevorstehende Einschulung. Eine der Frauen erklärt, daß sie ihre Tochter keinesfalls auf die Schule des Stadtviertels schicken werde, die Erfahrungen mit dem älteren Sohn seien zu übel gewesen. Man habe sich ja mit allem möglichen arrangiert: daß es für den Restanteil von zwanzig Prozent deutscher Schüler keine eigenen Klassen gebe, daß deshalb beim Übergang in eine weiterführende Schule mit erheblichen Defiziten zu rechnen war, daß dauernd auf die kulturell-religiösen Sonderrechte der muslimischen Mehrheit Rücksicht genommen wurde. Aber eines Tages habe ihren Sohn eine Mitschülerin mit einem Springmesser auf dem Hof bedroht und geäußert: "Ich steche dich ab, oder mein Bruder sticht dich ab." Empört sei man zur Schulleitung gegangen, aber die habe nur erklärt, daß alle Versuche, mit den Eltern des Mädchens Kontakt aufzunehmen, gescheitert seien, man gebe aber gerne die Adresse an die Eltern des bedrohten Jungen weiter, vielleicht komme man ja ins Gespräch.

Dritte Szene, im ICE, um die Mittagszeit, Großraumabteil. Im vorderen Abschnitt sitzen acht Personen auf den gegenüberliegenden Sitzreihen, durchaus gepflegte Erscheinungen, in legerer Kleidung, etwas forciert modisch die Damen reiferen Alters. Man hat Schnapsflaschen auf dem Tisch und prostet sich zu, ist offenbar schon einigermaßen bezecht, die Stimmen werden lauter, die Mitreisenden nehmen es hin, dann dreht einer aus der fröhlichen Runde ein tragbares Radio auf, ohrenbetäubende Musik, der Schaffner kommt, kontrolliert die Fahrkarten und nickt dem Kreis mit einem freundlichen Lächeln zu, geht dann weiter, ohne daß etwas passiert.

Wenn die Krise der Erziehung als eine totale bezeichnet wurde, dann deshalb, weil sie mittlerweile nicht mehr auf bestimmte Lebensbereiche eingeschränkt werden kann. Das Zurückweichen vor der Unerzogenheit ist zur Signatur der Zeit geworden. Überall wird Schwäche als Liberalität ausgegeben, haben sich einzelne und Institutionen damit arrangiert, daß Regeln nicht eingehalten werden und der Regelverstoß überhaupt nur noch geahndet wird, wenn das öffentlichkeitswirksam ist.

9. Eine Lösung dieser Krise ist nur möglich durch ein Rollback. - Als im Januar 1978 der Kongreß "Mut zur Erziehung" zusammentrat, hatten die Veranstalter vorausgesetzt, es gebe einen breiter werdenden Konsens darüber, daß man sich von Egalisierungsprinzip und Selbstverwirklichungsjargon in der Erziehung verabschieden müsse. Die meisten Anwesenden waren sich auch einig, wer die Verantwortlichen für das Desaster seien. Aber als ihnen einer der wenigen Befürworter emanzipativer Pädagogik im Auditorium, Hartmut von Hentig, erklärte, wenn sie eine grundsätzliche Änderung wollten, müßten sie eine "Tempelreinigung" biblischen Ausmaßes durchführen, waren die Reaktionen kleinlaut. Das ist durchaus typisch, daß aus besserer Einsicht keineswegs Entschlossenheit zum Handeln folgen muß, und wie anders ist unsere Lage, die nicht einmal das Maß an besserer Einsicht gewonnen hat, das 1978 noch allgemein vorausgesetzt werden durfte.

Tatsächlich darf man wenig Hoffnung in die Politik und die Theoretiker setzen, etwas mehr in die Praktiker und Eltern, die meiste Hoffnung aber in die Zöglinge. Ernst Jünger hat einmal geäußert: "Jeder Gedanke, der sich der Jugend bemächtigen will, sollte nichts versprechen, sondern das Schwerste von ihr fordern; denn in jeder gesunden Jugend ist eine unbewußte Sittlichkeit lebendig, die lieber gibt, als daß sie nimmt." Ohne Hoffnung auf diese "unbewußte Sittlichkeit" ist keine Hoffnung mehr.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen.


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