© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/07 18. Mai 2007

CD: Klassik
Chopin deutsch
Jens Knorr

Ehrt eure deutschen Meister! Hans Sachsens Aufruf gilt nicht nur den deutschen Meistern der interpretierenden Zunft, die im Rampenlicht stehen und ein wenig Licht auf jene andern abstrahlen, in deren Schule sie sich zu bewunderungswürdigen Meistern heranbilden durften. Er gilt jenen andern gleichermaßen, ihren Lehrern, die sich neben, nach oder anstatt der eigenen Karriere aufopferungsvoll der Ausbildung des Nachwuchses widmen, privat, an Hochschulen, in Meisterkursen.

Kurt Leimer war beides, Pianist und Lehrer. Den ersten Klavierunterricht erhielt der 1920 in Wiesbaden geborene Kurt von Karl Leimer, seinem Großonkel und Lehrer des Pianisten Walter Gieseking. Kurt studierte Klavier in Wiesbaden und Berlin. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die Wehrmacht eingezogen und 1944 in Livorno in Kriegsgefangenschaft geraten, setzte er nach der Rückkehr seine Karriere als Konzertpianist fort, welche ihn in die großen Konzerthäuser der Welt führte. Der Name des Pianisten ist vor allem als Interpret seiner vier Klavierkonzerte geläufig, die Kurt Overhoff in Leimers Auftrag und nach dessen Ideen auskomponierte und instrumentierte.

Der Name des Lehrers ist vor allem mit der Leitung der Meisterklasse für Klavier am Salzburger Mozarteum verbunden, die Leimer 1953 übernahm und bis zu seinem Tod 1974 in Vaduz innehatte, wie auch der Meisterklasse der Internationalen Sommerakademie, die das Mozarteum alljährlich im Rahmen der Salzburger Festspiele veranstaltete.

Die Zürcher Kurt-Leimer-Stiftung ehrt Kurt Leimer, indem sie jungen, talentierten Pianisten nützt und die Preise des seit 2005 zweijährlich ausgetragenen Klavierwettbewerbs als Förderstipendien aussetzt. Zu den vielfältigen Aktivitäten der Stiftung gehören Restaurierung und Neuveröffentlichung der Tonaufnahmen, die Kurt Leimer hinterlassen hat. Die zweite von geplanten acht CDs enthält seine Einspielungen der Sonate b-Moll op. 35, des Scherzos h-Moll op. 20 und der Etüden op. 10 und op. 25 von Fryderyk Chopin (Colosseum Classics COL 92012; www.kurtleimer.ch).

Der heilig nüchterne Ton, den Kurt Leimer anschlägt, erklärt sich nicht allein aus den Aufnahmebedingungen in den Tonstudios der sechziger Jahre. Leimers zuchtvolles Spiel mit trockenem Anschlag und wenig Pedal, maßvollen und immer durchgehaltenen Tempi, das sich aller Extravaganzen enthält, will das Interesse des Hörers von der Person des Interpreten weg und auf die Ausdrucksgehalte der interpretierten Musik lenken. Virtuose Technik gilt Leimert, dem Pädagogen, als selbstverständliche Voraussetzung, Ausdrucksgehalte hörbar zu machen; würde jene bloß vorgeführt, gingen diese perdu.

Als fingerbrecherische Zirkuskunststückchen wären Klaviersonate, Scherzo und die zweimal zwölf Etüden insgesamt nur schwer erträglich. Doch wenn melodische Erfindungen, die gemeinhin mit saucigen Orchesterarrangements übergossen oder mit einfältigen Texten unterlegt wurden, auf ihren Gefühlskern zurückgebracht werden, dann erscheinen sie wie Blumen, unter denen - nach Schumanns Wort - Kanonen eingesenkt sind, dann schimmern die Kantilene im Mittelteil der Etüde op.10, Nr. 3 oder die zarte Des-Dur-Kantilene des Marche funèbre aus der zweiten Klaviersonate von verschatteter Hoffnung.

Ringsum: Ausbrüche, Fluchtbewegungen, Atemlosigkeit, Erstarrung, "und manchmal eine zu genaue Erinnerung". Hört zu viel in Kurt Leimers Spiel hinein, wer aus diesem über die letztlich tödliche Erfahrung einer politischen und erotischen Emigration hinaus auch Kriegs- und Nachkriegserfahrung einer Generation heraushört, für deren Mehrheit Emigration nie in Frage kam?

Ein Meister aus Deutschland ist zu entdecken, der uns einen Meister aus Polen neu entdecken läßt.


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