© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/07 18. Mai 2007

Junge mit Hund, das geht immer
Der Journalist, der niemals schreibt, der ewige Pfadfi nder, bereit für die tägliche gute Tat: Zum hundertsten Geburtstag von Hergé
Karlheinz Weissmann

Als der belgische Zeichner Georges Rémy, besser bekannt unter seinem Künstlernamen "Hergé", am 3. März 1983 starb, brachte Libération eine Titelseite mit der Schlagzeile "Tintin ist tot", dazu ein Bild mit dem leblos daliegenden Tintin (Tim) und dem jaulenden Milou (Struppi). Tatsächlich waren Hergé, der Schöpfer, und Tim, sein Geschöpf, eine solch enge Verbindung eingegangen, daß der eine ohne den anderen nicht denkbar schien, vielleicht sogar der Schöpfer ganz in den Schatten seines Geschöpfs getreten war. Hergés Ankündigung, es werde nach seinem Tod keine Fortsetzung der Bildergeschichten von Tim und Struppi geben, faßten damals viele Leser und Verehrer so auf, daß die Alben nicht nachgedruckt würden. Sie stürmten die Geschäfte, um sich noch Exemplare zu sichern.

Der Irrtum ist längst aufgeklärt, und heute erscheint jede Auflage mit mehr als acht Millionen Stück. Der Boom ist ungebrochen und hat seit 1950 (400.000 Exemplare pro Auflage) zu immer weiteren Steigerungen geführt. Die Geschichten sind in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt, selbstverständlich in alle großen, aber auch ins Picardische oder Baskische. Der Grad der Begeisterung kennt dabei durchaus geographische Unterschiede: In Japan etwa haben Tim und Struppi eine große Fangemeinde, ähnlich in Spanien, aber in den USA sind sie kaum bekannt, auch in Deutschland ist die Zahl der regelmäßigen Leser deutlich kleiner als etwa in der Heimat Belgien oder in Frankreich.

Der Unterschied zur Situation am Beginn der Karriere Tintins fällt sofort ins Auge. Mitte der dreißiger Jahre war der Absatz der Alben so schwach, daß der Verlag Casterman schon über die Einstellung nachdachte. Dabei hatte alles durchaus verheißungsvoll begonnen. Hergé, der am 22. Mai 1907 in einer kleinbürgerlichen wallonischen Familie geboren wurde und seine Kindheit zum Teil im besetzten Brüssel verbrachte, ließ früh zeichnerisches Talent erkennen. Schon seine Schulhefte füllte er weniger mit den Aufgaben als mit Bildergeschichten, die er sich selbst ausgedacht hatte.

Im Februar 1922 wurden seine Arbeiten zum ersten Mal veröffentlicht, in der Zeitschrift Le Boy Scout Belge des nationalen Pfadfinderverbandes. Die Prägung durch diese Art von Jugendbewegung, die der Eintönigkeit seiner Kindheit ein Ende machte, die hier vermittelten Werte und der katholische Glaube haben die Vorstellungswelt Hergés sehr lange Zeit bestimmt.

Das erklärt wahrscheinlich auch den Eintritt in die Redaktion der Zeitung Le Vingtième Siècle, die das Sprachrohr der belgisch-patriotischen und katholischen Kräfte des Landes war. Zuerst hatte Hergé nichts anderes zu tun, als die Abonnements zu sortieren, dann versuchte er sich glücklos als Fotoreporter, bis schließlich durch einen Zufall seine eigentliche Begabung entdeckt wurde. Der Herausgeber des Vingtième, Abt Norbert Wallez, sah seine Zeichnungen aus dem Pfadfinderblatt und ließ ihn zukünftig als Illustrator arbeiten. Schließlich erhielt er auch die Verantwortung für eine Kinderbeilage unter dem Titel Le Petit Vingtième. Die war kein Erfolg, obwohl Hergé schon einen Comic beisteuerte. Erst als Wallez zu ihm sagte, er solle doch einen Jungen mit Hund zeichnen, der Abenteuer erlebe - "Das geht immer" -, änderte sich das.

Am 10. Januar 1929 erschien die erste Folge einer "Tim und Struppi"-Geschichte. Gemäß den Vorgaben von Wallez sollte es sich um eine Erzählung handeln, die die Gefahren des Kommunismus thematisierte; später entstand daraus das legendäre, aber auch oft denunzierte Album "Tintin au Pays des Soviets" (Tim und Struppi im Lande der Sowjets; JF 25/06). Ursprünglich war nicht daran gedacht, aus dem jugendlichen Reporter mit dem Kugelkopf und der Haartolle, in den typischen Knickerbockern, stets begleitet von seinem treuen Hund, einen festen Bestandteil des Petit Vingtième zu machen. Aber Wallez inszenierte publikumswirksam eine "Rückkehr" Tims auf dem Brüsseler Hauptbahnhof, die zu einer ersten großen Sympathiekundgebung für die neue Figur wurde und Hergé veranlaßte, sich in den folgenden Jahren immer neue Reisen und immer neue Abenteuer auszudenken.

Man merkt den Geschichten manchmal heute noch an, daß sie ursprünglich in Fortsetzungen gedruckt wurden - auch, wie sehr sie dem Zeitgeist verhaftet waren. Das betrifft etwa die Selbstverständlichkeit, mit der Tim in Afrika auf Großwildsafari geht (Tim und Struppi im Kongo), wie klischeehaft die USA dargestellt wurden (Tim und Struppi in Amerika) oder wie stark aktuelle Ereignisse, etwa die japanische Besetzung Chinas (Der blaue Lotos) oder der vergessene Gran-Chaco-Krieg (Der Arumbaya-Fetisch) hineinspielten. War die Recherche zuerst von ganz untergeordneter Bedeutung, so verwendete Hergé im Laufe der Zeit wachsende Akribie an die Ausgestaltung, indem er alles mögliche Vorlagenmaterial sammelte, vom Zeitungsausschnitt über die Postkarte bis zur Konstruktionszeichnung, um die Details möglichst genau wiedergeben zu können. Michael Farr hat diese Muster den danach entstandenen Bildern in einem reizvollen Band gegenübergestellt (Auf den Spuren von Tim & Struppi, Hamburg: Carlsen 2006, geb., 205 Seiten, 35 Euro) und auch darauf hingewiesen, daß Hergé nach dem Zweiten Weltkrieg einen ganzen Stab von Zeichnern beschäftigte, die nichts anderes taten, als exakte Flugzeuge, U-Boote, archäologische oder exotische Stücke zu liefern; im Fall der legendären rot-weißen Rakete wurde sogar ein maßstabsgetreues Modell angefertigt, die äußere Gestalt hatte man übrigens an die V2 angelehnt.

Inwieweit war Hergé ein politischer Mensch?

Von solcher Perfektion mußten die Anfänge weit entfernt sein. Trotzdem darf man Tim und Struppi als Institution der belgischen Jugendkultur in den Vorkriegsjahren betrachten. Das Land erlebte damals eine schwere Zeit. Es zeigte sich politisch gespalten, und die Stellung von Wallez, des Vingtième und auch die Hergés war auf seiten der Rechten, genauer gesagt des "Rexismus". Dessen charismatischer Führer, Léon Degrelle, hatte als junger Journalist für Le Vingtième Siècle gearbeitet, wo Hergé ihn kennenlernte. Er fertigte auch für ein 1932 erschienenes Buch "Degrelles - L' Histoire de la Guerre Scolaire" die Illustrationen an. Je stärker sich aber Degrelle dem Faschismus näherte, desto weiter distanzierte sich Hergé. Viele Indizien sprechen dafür, daß er noch in den dreißiger Jahren ein Sympathisant des Rexismus war, aber nach der Besetzung Belgiens durch die Wehrmacht im Juni 1940 schlug er Degrelles Angebot zur Mitarbeit an der rexistischen Zeitung Le Pays réel aus, die massive Propaganda für die Kollaboration betrieb.

Man muß sich die Frage stellen, inwieweit Hergé überhaupt ein politischer Mensch war und nicht im letzten unpolitischen, vor allem ethischen Überzeugungen folgte. Seine Stellungnahme für die chinesische Nationalbewegung in "Der blaue Lotos" etwa ging vor allem auf die Begegnung mit dem Studenten Tchang Tchong-Jen zurück, nicht auf eine genauere Auseinandersetzung mit der Lage in Asien. Genausowenig war seine Kritik an Hitlers Annexionen in "König Ottokars Szepter" Ausdruck eines prinzipiellen Antifaschismus, sondern einer Sorge angesichts der aggressiven Politik des großen Nachbarn. Hergé gehörte damals zu den Befürwortern belgischer Neutralität, als der Zusammenbruch kam, hielt er eine pragmatische Haltung gegenüber dem Feind für die beste Lösung.

Nachdem Le Vingtième Siècle von den Besatzungsbehörden verboten worden war, arbeitete er für Le Soir, eine von den Deutschen finanzierte Zeitung, die allerdings einem gemäßigten Kurs folgte. Das hat Hergé nicht vor einem Berufsverbot nach der Befreiung bewahrt, aber seine Gerichtsakte verschwand auf mysteriöse Weise und zu einer Anklage kam es nie. Schon 1946 gab der ehemalige Widerstandskämpfer Raymond Leblanc ein Wochenmagazin mit dem Titel Tintin & Milou heraus, in dem jetzt die Geschichten von Tim und Struppi erschienen.

Trotz einer massiven Lebenskrise - 1949 und 1950 erlitt Hergé Nervenzusammenbrüche - bildeten die folgenden Jahrzehnte den Höhepunkt seiner Laufbahn. Hergé arbeitete zwar weiterhin an einigen anderen Charakteren und Geschichten, aber zuletzt kehrte er immer wieder zu Tim und Struppi zurück. Den Charakter ihrer Geschichten hatte er schon während des Krieges zu verändern begonnen, sie um alle Zeitbezüge oder Hinweise auf die Lage in Belgien bereinigt; entsprechende Bearbeitungen nahm er dann auch für die alten Titel vor, die neu - und jetzt in Farbe - herausgegeben wurden.

"Man muß seine Prinzipien aufgeben können"

Hergé hat sich zwar immer geweigert, ein Schuldbekenntnis für sein Verhalten während des Krieges abzulegen, aber seine Weltanschauung verschob sich deutlich nach 1945. In einem Interview äußerte er: "Man muß seine Prinzipien aufgeben können, das erleichtert das Leben." Die Botschaft seiner späteren "Tim und Struppi"-Bände ist denn auch eher eine humanitäre. Vieles darin zeugt von einem wachen Gespür für Kommendes, so bei "Reiseziel Mond" und "Schritte auf dem Mond" in bezug auf den Wettlauf zu den Planeten, bei "Der Fall Bienlein" mit einer Kritik der modernen Technologie oder bei "Tim und die Picaros" im Hinblick auf den Einfluß der Medien.

Deren erbärmliches, aber irgendwie doch bemitleidenswertes Produkt, Fridolin Kiesewetter, ist die letzte hinzugekommene Nebenfigur in den "Tim und Struppi"-Bänden und hat niemals jenes Charakteristische erhalten, das Veteranen wie Kapitän Haddock, Professor Bienlein, Schulze und Schulze oder die exzentrische Bianca Castafiore auszeichnet. Unverzichtbar sind sowieso nur Tim und Struppi, der ideale, der "Journalist ohne Zeitung" (Gérard Lefort), niemals schreibend, alterslos, immer unterwegs, ein ewiger Pfadfinder, bereit für die tägliche gute Tat.

Fotos: Tim und Struppi aus "Tim im Lande der Sowjets": Mit der Zeit wurden die Zeichnungen detailgetreuer, Hergé (G. Rémy)


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