© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/07 18. Mai 2007

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
Eine Karlsruher Tagung debattierte über Recht und menschliche Werte in Europa / Ein Bericht
Wolfgang Fenske

Wert Urteile - Judging Values", so lautete der Titel einer internationalen Tagung über "Recht und menschliche Werte in Europa", die in der vergangenen Woche auf Einladung der Kulturstiftung des Bundes in Karlsruhe stattfand. Zeit und Ort waren mit Bedacht gewählt: Beginnend mit dem 9. Mai, dem von der Europäischen Union proklamierten Europatag, sollte am Sitz von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof drei Tage lang über rechtliche und ethische Probleme debattiert werden, die sich aus der zunehmenden Verflechtung der europäischen Staaten und der Zuwanderung nichteuropäischer Migranten ergeben. Der Titel der Veranstaltung erinnert kaum zufällig an die rechtlich-ethische Doppelbestimmung menschlichen Handelns, wie sie im europäischen Denken seit den Tagen der kritischen Philosophie Immanuel Kants allgemein wirksam geworden ist (JF 41/06 und 17/07). Der Philosophie der Aufklärung als Stichwortgeberin für eine gesellschaftspolitische Problemanzeige - ein bemerkenswerter Vorgang.

Vor etwa 300 Teilnehmern diskutierten die rund vierzig Referenten, zumeist Wissenschaftler, Fragen der Bioethik und des Multikulturalismus, also aus "Konfliktfeldern", die eine (Selbst-) Verständigung der europäischen Staaten besonders dringend erscheinen lassen. Wo stehen die jeweiligen nationalen Rechts- und Wertediskussionen - sofern sie überhaupt geführt werden? Welche Konsequenzen haben unterschiedliche Werte- und Rechtsvorstellungen etwa im Bereich der Biotechnologie? Und wie geht man mit ihrer durch Migration hervorgerufenen Präsenz inmitten des eigenen Werte- und Rechtssystems um? Ja, was sind eigentlich die "eigenen Werte"?

Die bioethische Diskussion entscheidet sich in praktisch allen prominenten Streitpunkten - Stammzellforschung, Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Transplantationsmedizin - an der Definition von Anfang und Ende des "Menschen". Im Hinblick auf die Frage, von welchem Punkt der embryonalen Entwicklung an man von einem Menschen sprechen könne, hält die Medizinethikerin Claudia Wiesemann (Göttingen) jeden intrinsischen Erklärungsansatz, der wahlweise mit der Konzeption (Verschmelzung von Ei und Samenzelle), der Nidation (Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter) oder der selbständigen Lebensfähigkeit des Menschen einsetzt, für unbefriedigend, weil er gleichermaßen materialistisch und isoliert angelegt sei. Solchen absoluten Konzeptionen setzt Wiesemann eine relationale Konzeption entgegen, indem sie dafür plädiert, die Entwicklung des Menschen in ihren sozialen Kontexten zu verstehen: Empirische Untersuchungen hätten ergeben, daß die befruchtete Eizelle in der Wahrnehmung von Eltern mehr sei als ein "Zellklumpen". Insofern sei das "Ethos der Elternschaft" eine "Universalie", die es ermögliche, in der europäischen Wertediskussion einen sozialen Konsens über den Beginn menschlichen Lebens herzustellen.

Wer sich von einem sozialen Verständnis des Lebens einen Schlüssel zu dessen effizienterem Schutz erhofft hatte, mußte sich umgehend die Kehrseite relationaler Verstehensansätze präsentieren lassen. Der Medizin­ethiker Dan Brock (Harvard) teilte nämlich den sozialen Ansatz durchaus, wenn er mit Kant daran erinnerte, daß keine Person nur als Mittel zum Zweck benutzt werden dürfe. Allerdings sah er sich außerstande, im Embryo eine Person zu erkennen. In sozialer Perspektive könne man von einer Person erst dann sprechen, wenn sie beispielsweise als Organspender anderen Menschen zum Leben verhelfen könne. Das aber sei bei einem Embryo nicht der Fall. Der Embryo nehme deshalb einen "Zwischenstatus" zwischen einer menschlichen Person (human person) und bloßem menschlichen Gewebe (mere human tissue) ein, so daß sein Verbrauch für alternativlose Stammzelltherapien ethisch legitim sei.

Eine Alternativlosigkeit der Stammzelltherapie wollte der katholische Ethiker Dietmar Mieth (Tübingen) indes nicht gelten lassen, zumal sie den Kritikern der Stammzellforschung einseitig die Beweislast auferlege. Angesichts der "zwei Ungewißheiten" - des Erfolges der Stammzelltherapie einerseits und der Identität des Embryos andererseits - plädierte Mieth für ein "Prinzip der Vorsicht", das den Embryo "wie" einen Menschen behandelt, statt seine "Kontinuität" zu unterbrechen.

Da absolute Werte fehlen, sind relative Modelle beliebt

Das zweite "Konfliktfeld" der Tagung, der Multikulturalismus, ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie (Gießen) ein hausgemachtes Problem. Denn daß den christlichen Kirchen selbst in der säkularisierten Gesellschaft der Gegenwart durch das Staatskirchenrecht weitgehende Privilegien eingeräumt werden, müsse der Islam als Einladung verstehen, seine Anerkennung ebenfalls auf quasikirchlichem Niveau anzustreben. Dieses von Leggewie - in Anlehnung an den Westfälischen Frieden von 1648 - als "westfälisch" bezeichnete System müsse durch ein "postwestfälisches Zeitalter" abgelöst werden. Hierfür bedürfe es einer "Amerikanisierung", bei der die Vorrechte der großen christlichen Kirchen aufgehoben und durch gleiche Rechte für alle Religionsgemeinschaften ersetzt werden.

Einer solchen Relativierung der überkommenen religiösen Strukturen mochte sich der Religionssoziologe Enzo Pace (Padua) nicht anschließen. Nicht über eine Schwächung, sondern nur über eine Stärkung der Religion könne dem Problem multireligiöser Enklaven in europäischen Großstädten begegnet werden. Freilich zielte Pace dabei nicht auf eine Stärkung der Religion als Religion, sondern als Subtext allgemeiner Grund- und Menschenrechte, deren religiösen Wurzeln mit Hilfe einer "humanistischen Hermeneutik der heiligen Texte" freizulegen seien.

Wie wenig es indes mit der Rede von "europäischen Werten" auf sich hat, führte sichtlich vergnügt der Politikwissenschaftler Yilmaz Esmer (Istanbul) vor. Man könne nicht gleichzeitig Vielfalt (diversity) und allgemeine Werte (common values) hochhalten, wie die europäischen Eliten dies versuchten, sondern müsse sich zwischen beiden entscheiden. Ein Kulturraum, in dem das christliche Erbe wie etwa in Estland nur noch von einem Viertel der Einwohner bejaht werde, könne jedoch kaum noch damit rechnen, jemals wieder eine christliche oder auch nur kulturchristliche Homogenität zu erreichen.

Anspruch und Wirklichkeit im Umgang mit Werten war denn auch das Thema eines abschließenden Gesprächsganges, in dem die Philosophin Yvanka Raynova (Wien) unter anderem auf den Umgang deutscher Institutionen mit der JUNGEN FREIHEIT hinwies. Daß die Postbank 2001 deren Konten habe kündigen können, ohne daß dies von irgend jemandem beanstandet wurde, sei ein Grund zu erhöhter Wachsamkeit.

Eine ähnliche Unsicherheit im Umgang mit den eigenen Werten assistierte die durch die Ehrenmordprozesse bekannt gewordene Rechtsanwältin Seyran Ateş (Berlin) Juristen und Politikern, die meinen, ihr Handeln an fremden kulturellen Maßstäben ausrichten zu müssen, wie es unlängst bei einer Frankfurter Familienrichterin zu beobachten war, die in der Ausübung des Züchtigungsrechtes durch einen muslimischen Mann an seiner Frau "keine unzumutbare Härte" erblickte (JF 13/07).

Damit endete die Karlsruher Tagung an ebenjener Stelle, an der sie begonnen hatte, bei der Frage nämlich, welche die Werte und Normen sind, auf die sich die europäischen Staaten verständigen sollten. Da zur Klärung der Frage weder die eigene Kulturgeschichte noch ihre Rezeption durch die Jahrhunderte befragt wurde, blieb es allenthalben bei relationalen Modellen (mit sehr ambivalenten Intentionen) oder Fluchtbewegungen, die nach Amerika, in den Islam oder direkt in zivilreligiöse Utopien führten, niemals aber in die eigene Tradition, aus der heraus jedes Fragen ja erst möglich wird. Daß theologische Vertreter wie Dietmar Mieth zudem philosophisch argumentierten, um "keine Partikulardiskurse" zu führen, fällt da kaum noch ins Gewicht. Was auf dem Kongreß fehlte, waren nicht in erster Linie die richtigen Antworten, es waren die richtigen Fragen.

Europa im Schmelztiegel, Werte-Symbole auf der Karlsruher Tagung: "Wert Urteile - Judging Values" konnte zwar das Problem konkurrierender Wert- und Rechtsvorstellungen in Europa beschreiben, mußte bei der Frage nach möglichen Lösungsansätzen jedoch passen


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