© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

Ruhe ist das erste Bürgerrecht
Hambachs Freiheit, Preußens Militär: Wie sich die Deutschen treu geblieben sind
Thorsten Hinz

Am 4. Oktober 1914 veröffentlichten 93 deutsche Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler ein Manifest, dessen Kernsätze lauteten: "Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins." Das Manifest gilt als Beleg für die tief in der Geschichte angelegte Verirrung Deutschlands.

Und in der Tat: Wer den Militarismus als Voraussetzung für den Bestand seiner Kultur benennt, erweckt damit leichtfertig den Eindruck, daß diese mit freiheitlichen und demokratischen Prinzipien nicht kompatibel ist. Thomas Mann hat 1945 diese Ausschließung auf die Formel gebracht, den Deutschen gehe es darum, "deutsch zu sein, nur deutsch und nichts darüber hinaus".

Sollte dieses fatale Freiheitsverständnis zutreffen, dann hätte es sich im Dritten Reich mit der Befreiung von den eigenen bürgerlichen Freiheitsrechten vollendet. Diese simple Kausalität geisterte lange als "deutscher Sonderweg" durch die Geschichtsschreibung. Als Generalverdacht und Grundempfindung wird sie bis heute gepflegt.

Ihr steht das Hambacher Fest entgegen, das die Synthese aus nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit beschwor. Doch der deutsche Einheitsstaat war niemals die Sache der Deutschen allein. Man wird also, wenn man die feudale Kleinstaatlichkeit und das damit verbundene Freiheitsdefizit moniert, die Dialektik von innerer Verfassung und äußerer Lage im Blick behalten müssen. Dann erscheint das Manifest der 93 weniger als Ausdruck eines antidemokratischen "Furor teutonicus", sondern als Ausdruck einer historischen Erfahrung, ja eines nationalen Traumas.

Hintergrund war Deutschlands europäische Mittellage, die jahrhundertelang seine nationalstaatliche Konsolidierung verhindert hatte. Das amorphe Reich war im Dreißigjährigen Krieg Schlachtfeld und Durchmarschgebiet gewesen, seine Kleinstaaten die Verfügungsmasse mächtigerer Nachbarn. 1648 war Deutschland verwüstet, seine Bevölkerung zu großen Teilen ausgerottet.

Für andere Länder, für Frankreich, England, die Niederlande, war das 17. Jahrhundert geschichtlich gesehen eines der glanzvollsten überhaupt. Diese Diskrepanz führte in Deutschland neben Komplexen und Unglücksgefühlen zu spezifischen Denk- und Verhaltensweisen.

Der vielbespöttelte Grundsatz, daß Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, fand sein Gegenstück im Anspruch an den Monarchen, Angst und Not fernzuhalten. Der wehrhafte Feudalherr sollte sich seiner Untertanen sicher sein, wenn nur der Feind außer Landes blieb. Es ist nachvollziehbar, warum in der deutschen Gesellschaft das militärische Ethos das Bedürfnis nach bürgerlicher Emanzipation und demokratischer Teilhabe oft überwog. Über die Folgen militärischer Wehrlosigkeit waren die Deutschen hinreichend belehrt. Ihre neugewonnene Wehrhaftigkeit manifestierte sich im legendären preußischen Militarismus. Das Manifest der 93 beschreibt die politikferne, machtgeschützte Innerlichkeit, die er ermöglichte und in der Kultur und Wissenschaft einen unvergleichlichen Aufstieg erlebten.

Die Revolution von 1848 war der Versuch gewesen, den Impuls von Hambach aufzunehmen und Einheit und Freiheit zur Deckung zu bringen. Sie scheiterte nicht nur an sich selbst. Wieder erwies sich die Mittellage als fatal, denn ein freiheitlicher deutscher Nationalstaat hätte an das europäische Gleichgewicht gerührt. Die scharfe Ablehnung durch den russischen Zaren verwunderte nicht. Der Dualismus zwischen Preußen und Österreich war ein zu bequemer Hebel, um Einfluß auf die deutsche und europäische Politik zu nehmen, als daß er ihn aus der Hand geben mochte. Außerdem wollte er an der reaktionären Allianz der Monarchen festhalten.

Aber auch England und selbst Frankreich, seit 1789 das Land der permanenten Revolution, waren abgeneigt. Zur selben Zeit, als das vom Frankfurter Paulskirchen-Parlament eingesetzte Reichsministerium sich in Paris um die völkerrechtliche Anerkennung bemühte, erklärte der französische Außenminister Jules Bastide dem preußischen Gesandten: "Wir werden den Triumph der demokratischen und unitarischen Tendenzen in Deutschland bekämpfen; wir werden durch unsere moralische Stütze die deutschen Fürsten halten (...)" Eine militärische Intervention des Auslands war nie ganz auszuschließen. Erst Bismarck gelang durch sein Zusammenspiel aus diplomatischem Genie und gepanzerter Faust 1870/71 die Herstellung der (klein-)deutschen Einheit.

Fortan wurde der militärisch geprägte Obrigkeitsstaat bis weit in das bürgerlich-demokratische Lager hinein als legitime Form nationaler Selbstbehauptung akzeptiert. Er förderte zweifellos analoge Persönlichkeitsstrukturen, wie sie Heinrich Mann im "Untertan" karikiert und ins Groteske übersteigert hat. Die Weimarer Republik konnte keinen Ausgleich von Einheit und Freiheit herstellen, trat sie doch durch eine demütigende Niederlage ins Leben, die durch die westlich-demokratischen Siegermächte ständig erneuert wurde.

Die Bundesrepublik als pure Erfolgsgeschichte zu feiern, fällt gleichfalls schwer. Auch an ihrem Anfang stand keine demokratische Selbstbestimmung freier Bürger, sondern Fremdzwang, nur ging er statt vom Obrigkeitsstaat von den Siegermächten aus und war nach der Zerschmetterung des deutschen Militarismus total.

So konnte er sich noch in jene substantiellen Bereiche einsenken, die von der machtgeschützten Innerlichkeit einst gehegt worden waren und die geistig-kulturelle Signifikanz Deutschlands definierten. Er wird deshalb als solcher kaum noch identifiziert, sondern wird nur auf Umwegen kenntlich, etwa in der Akzeptanz einer radikal negativen, unhistorisch angelegten Sonderweg-Ideologie, eigentlich ein Popanz aus der psychologischen Kriegführung der Gegner.

Am häßlichsten entäußert er sich in der Reproduktion einer Untertanenmentalität, die noch Toleranz als Erziehungsprogramm und neben den politischen sogar die geistigen Freiheitsrechte als Lizenzen begreift, die von der staatlichen Obrigkeit erteilt und nach Bedarf auch wieder entzogen werden dürfen.

In mancher Hinsicht sind die Deutschen sich also treu geblieben und haben sich sogar weiterentwickelt. Eingelöst wurde das Versprechen von Hambach bis heute nicht.

Foto: Schwarzrotgoldene Fahne des Hambacher Festes mit der Aufschrift "Deutschlands Wiedergeburt": Nicht eingelöstes Versprechen


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