© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/07 25. Mai 2007

Der Freiheit entgegen
Verlangen nach nationaler Einigung und bürgerlichen Freiheitsrechten: Vor 175 Jahren fand das Hambacher Fest statt / Die Erinnerung daran wurde immer wieder aufgefrischt
Günther Gillessen

Ohne Zweifel hätte Goethe keinen Augenblick gezögert, denen, die in der Nacht des 9. November 1989 am Brandenburger Tor auf der Mauer tanzten, das Wort abermals zuzurufen, das er 1792 den Soldaten der Reichsarmee nach der Kanonade bei Valmy gesagt haben wollte: Von hier und heute an beginne ein neues Zeitalter der Geschichte, "und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabeigewesen".

Das Fest, das vor 175 Jahren, wenige Wochen nach Goethes Tod, auf dem Burgberg des kleinen Winzerdorfs Hambach an der pfälzischen Weinstraße gefeiert wurde, markierte gewiß keine Wende der Zeiten. Hambach brachte unmittelbar nichts zustande außer neuerlicher Verschärfung der Pressezensur und GefäAAngnisstrafen für diejenigen Anführer, die nicht rechtzeitig in die Schweiz geflohen waren. Dennoch war Hambach nicht bloß eine Episode. Der Name schrieb sich fest in die historische Erinnerung ein als Symbol eines leidenschaftlichen Verlangens nach Freiheit und Einheit des deutschen Volkes in einem deutschen Nationalstaat. Die Erinnerung an das Hambacher Fest wurde immer wieder aufgefrischt, zumal bei runden Jubiläen; im 20. Jahrhundert wurde es von den Sozialdemokraten auch für sozialpolitische Ziele in Anspruch genommen.

Tatsächlich war auf dem historischen Hambacher Fest auch heftige Klage über die hohen Steuern und die Menge der Zollschranken und Mautgebühren geführt worden. Nicht nur bürgerliche Honoratioren, auch die kleinen Leute sahen darin eine der Ursachen ihrer Verarmung und forderten Befreiung des Handels mit ihren Erzeugnissen von den fiskalischen Absatzhindernissen. Freier Handel und großräumiges Wirtschaften wurden zutreffend als Bestandteile der politischen Freiheit und Einheit begriffen.

Wenn das historische Hambacher Fest also unmittelbar nichts erbrachte, so war es doch ein bewußtseinsbildendes Ereignis auf dem steinigen Wege der Gewinnung bürgerlicher Freiheit und deutscher Einheit in dem langen, von Rückschlägen begleiteten Ringen mit den deutschen Fürsten. Sie hatten 1815 den Deutschen Bund nicht dazu bestimmt, das alte Reich wiederherzustellen oder ein neues Reich auf den alten Fundamenten aufzurichten.

Vielmehr war der Deutsche Bund ein Bündnis der deutschen Fürsten zur Erhaltung der auswärtigen Sicherheit des Bundesgebietes und ihrer eigenen Territorien und ein innenpolitisches Bündnis zur Erhaltung ihrer Herrschaft über ihre Untertanen. Nebenbei: auch über jene ihrer fürstlichen Standesgenossen, welche sie mit Napoleons Hilfe mediatisiert hatten. Ein unauflöslicher Bund, kein Bundesstaat, zusammengefügt aus geheiligten Rechten der Monarchen "von Gottes Gnaden" und aus revolutionären Elementen wie den nach Räuberart neu gezogenen Landesgrenzen. Das Ganze oder das Halbe, als das man es auch ansehen kann, wurde als unantastbare Legitimität dargestellt.

Wenige Jahre nach dem Wiener Kongreß hatte sich der Deutsche Bund mit den Karlsbader Beschlüssen (1819) zur Unterdrückung der "revolutionären Umtriebe" diskreditiert. Die Einheitsidee, soweit sie sich in der Bundesakte darstellte, hatte sich auf bundeseinheitliche Unterdrückung der liberalen und demokratischen Bestrebungen im Lande verengt, auf bürokratische Kontrolle und Polizeimacht: Verbot der Burschenschaften, polizeiliche Führungszeugnisse für Studenten als Voraussetzung der Immatrikulation, Pressegesetze mit Vorzensur der Behörden für Zeitungen und Zeitschriften, Nachzensur für Bücher, Tätigkeitsverboten für Redakteure. Liberale Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten wurden angehalten und zeitweilig auch ein Stück zurückgeholt. Regierungen kleiner und mittelgroßer Einzelstaaten gerieten dabei in ziemliches Gedränge zwischen den beiden restaurativen Vormächten des Bundes, Österreich und Preußen, sowie dem politischen Druck aus dem Volk, vornehmlich dem gebildeten Bürgertum, das freiheitliche Reformen und politische Mitbestimmung verlangte. Der Bund in der Hand der beiden Präsidialmächte zwang die Klein- und Mittelstaaten in die Disziplin seiner Repressionspolitik, ihr eigenes Interesse an Partikularität hingegen brauchte und duldete darum auch immer wieder Lockerungen und Freiheitsräume.

Die liberale Opposition begriff sehr wohl diese Zwiespältigkeit auf der Seite ihrer Gegner und stellte ihre Strategie darauf ein. Der Protest ihres radikalen Flügels, der republikanisch gesinnten "Demokraten", richtete sich verbal gegen alle "Tyrannen" in Deutschland. Aber er organisierte sich nicht da, wo das polizeistaatliche Regime am konsequentesten herrschte - in Österreich unter Metternich und in dem reform-unwillig gewordenen Preußen -, sondern da, wo die "Tyrannei" am schwächsten und die liberale Opposition am stärksten war, im linksrheinischen Teil der jetzt bayerisch regierten ehemaligen Kurpfalz, in Hessen-Darmstadt, Baden, Württemberg und in Bayern insgesamt.

Freilich, so unerträglich tyrannisch, wie die politische Linke es in jakobinischer Manier behauptete, war diese partikularistisch aufgelockerte Herrschaftspraxis nicht. Die Tyrannen-Fresser des Vormärz waren tüchtige Polemiker. "Deutschland war zwischen 1819 und 1848 ... keineswegs ein großes Gefängnis, und es war gewiß kein revolutionärer Vulkan. Es gab genügend Ventile, es gab genügend Wechselspiel zwischen Fortschritten und Beharrung in der einzelstaatlichen Politik ... Aber das generelle System der Restauration hat die natürlichen politischen und sozialen Spannungen immer wieder verschärft" (Thomas Nipperdey).

Das Hambacher Fest selbst belegt dies. Daß es überhaupt so stattfinden konnte, unter den Augen der Behörden, stützt die eine Seite dieser Beurteilung, und die dort geführte Sprache die andere. Die Reden und die in Hambach gesungenen Lieder ergaben eine eigentümliche Mischung aus Schmähungen der Fürsten, praktischen Forderungen nach Pressefreiheit, was implizit auch Rede- und Versammlungsfreiheit bedeutete, und pathetischen Bekenntnissen zur Freiheit und Einheit eines idealisierten Vaterlandes in brüderlicher Verbundenheit mit gleichgerichteten Nachbarvölkern. Dazu die handfesten Klagen der in kleinbäuerlicher und kleinhandwerklicher Enge lebenden Bevölkerung der bayerischen Pfalz, die bislang auch mehr die Nachteile als die Vorteile der frühen Industrialisierung kennengelernt hatte. Eine Reihe von Mißernten war hinzugekommen. Viele kleine Existenzen hatten aufgeben müssen und wurden in die Klasse der Tagelöhner hinabgedrückt. Sie meinten mit Freiheit vor allem ihr tägliches Brot.

Im Vergleich zum Wartburgfest von 1817, wo sich die Jenaer Studenten in Erinnerung an die Leipziger Völkerschlacht und auch an den Thesen-Anschlag Martin Luthers vor dreihundert Jahren recht altfränkisch-"teutsch", franzosenfeindlich und konfessionell anti-römisch aufgeführt hatten, fällt auf, daß der Appell der Hambacher wesentlich politischer bestimmt war. Studierte Leute, Advokaten, Journalisten, Ärzte und Apotheker, Lehrer, Bürgermeister gaben den Ton an, aber daß dieser in der Breite der Bevölkerung Resonanz fand, war auch der Schulpflicht und dem sich ausbreitenden Zeitungswesen zu verdanken. Alle Schichten des Volkes waren empfänglicher für Nachrichten und politische Anstöße aus den Nachbarländern geworden.

Dazu gehörten nach dem Befreiungskrieg der Griechen (1829) vor allem die Ereignisse im nächstgelegenen Ausland, die Juli-Revolution (1830) in Paris, die davon angestoßene Revolution in Brüssel, die ein Jahr später mit Zustimmung der fünf Großmächte zur Ablösung Belgiens vom Königreich der Niederlande führte, und der Aufstand der Polen im Jahre 1831 gegen die Herrschaft des Zaren. Dazu Erhebungen in Italien, unter anderem in Bologna und Parma. Der polnische Aufstand wurde zwar niedergeschlagen, aber er führte zu einer Solidarisierung der westeuropäischen Öffentlichkeit mit den Scharen polnischer Emigranten auf ihrem Zuge ins französische Exil.

Alle diese Vorgänge, die geglückten wie die mißglückten, hatten der Partei der Bewegung in Europa gezeigt, daß die Fürstenthrone mitnichten so unerschütterlich fest standen, wie die Partei der Beharrung vorgab. Zur selben Zeit trieben in England die Kämpfe um die große Parlamentsreform, um die Einschränkung der Kinderarbeit in den Fabriken und um die Abschaffung der Sklaverei im ganzen Kolonialreich ihren Höhepunkten zu.

Rebellion lag ringsum in der Luft, auch weiterhin. Dem Hambacher Fest folgten ein Jahr später der leichtsinnige Sturm einer Schar Revolutionärer auf die Frankfurter Hauptwache, direkt vor dem Palais Thurn und Taxis, dem Sitz des Bundestages; dann der Konflikt im Königreich Hannover mit dem Protest der "Göttinger Sieben", schließlich die Empörung im Rheinland über die preußische Regierung im Kölner Kirchenstreit.

Im Blick auf die gesamte Lage fällt auf, daß das, was Diplomaten und Historiker die "deutsche Frage" genannt haben, eine Fehlbenennung ist. Es ging nie allein um die Errichtung eines deutschen Nationalstaates. Es ging zugleich immer auch um andere Nationalstaaten, nach Griechenland und Belgien um Polen, Ungarn, Böhmen, Italien. Es ging zugleich immer um freiheitliche Verfassungsstaaten, und auch um die Erwartung einer nicht-hegemonialen, friedlich-genossenschaftlichen Ordnung unter den sich selbst regierenden Völkern Europas.

Die Ziele der nationalen Einigung, freiheitlicher Verfassungen und staatenbündischer Ordnung Europas waren, für sich genommen, nicht unvereinbar. Doch die gleichzeitige Gegenwärtigkeit aller drei Qualitäten für alle europäischen Nationen mißlang ungefähr zweihundert Jahre lang. An allen Wegmarken, 1789, 1805, 1815, 1848, 1866, 1870/71, vor 1914 und nach den Pariser Vorortverträgen von 1919, 1933, 1945, 1956, 1968, wurde entweder das eine oder das andere oder das Dritte verfehlt. Erst 1989 kamen in ganz Eu-ropa alle drei Ziele europäischer Ordnungspolitik für alle zugleich in greifbare Nähe - und wurden durchweg ergriffen.

Hambach war vielleicht kein wichtiger, gleichwohl aber ein aufschlußreicher Augenblick in dieser harten, von entsetzlichen Rückschlägen begleiteten zweihundertjährigen Völkergeschichte. Sie ist nicht zu Ende. Auch in Demokratien bleibt Freiheit ein ständig gefährdetes Gut.

 

Prof. Dr. Günther Gillessen leitete an der Universität Mainz das Journalistische Seminar und war politischer Redakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"

Bild: Hambacher Fest 1832, Aquarell Max von Boehn (1860-1932) nach einem zeitgenössischen Holzstich: Die meisten der zwanzigtausend Teilnehmer fanden in Neustadt Unterkunft, in den wenigen Gasthöfen der Stadt, in Privatquartieren, in Massenlagern auf Stroh in Schulräumen, Scheunen oder gar im Freien. Niemand kann Großes aus kleinteiligen Beiträgen besser improvisieren als die Leute selbst, wenn Begeisterung Hilfsbereitschaft erzeugt. Man muß sie nur machen lassen.


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