© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/07 01. Juni 2007

Übernahme der Regierungsgewalt durch das Heer
Neue Quellen aus den Tiefen der Moskauer Archive: Der Widerstand des 20. Juli plante den Umsturz bereits im Herbst 1943
Bernd Lohmann

Heutzutage sind zeithistorisch bedeutende neue Quellenfunde vor allem in Moskau zu erwarten. Und zwar im sogenannten "Sonderarchiv", dem Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (FSB), das die Aktenschätze des KGB birgt. Dazu gehören Hunderte von Regalmetern mit Akten deutscher Herkunft, die der sowjetische Geheimdienst während des Vormarsches der Roten Armee in Ost- und Mitteldeutschland erbeutete.

Auch Peter Hoffmann, in Kanada lehrender, nunmehr emeritierter Alt-meister der deutschen Widerstandsforschung, Verfasser des vielfach aufgelegten Standardwerkes über den "20. Juli" und seine Vorgeschichte ("Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler", zuerst 1969), ist nun in diesen vor 1990 unzugänglichen KGB-Beständen das Finderglück hold gewesen. Ihm fielen die von Oberst Henning von Tresckow im Herbst 1943 ausgearbeiteten Staatsstreichpläne in die Hände (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2/07).

Um in ihren Besitz zu gelangen, benötigte Stalins Militärgeheimdienst allerdings deutsche Hilfe. Im Februar 1945, einen großen Teil Ostpreußens hatte die Sowjetarmee soeben erobert, brachte man daher den kriegsgefangenen Major im Generalstab Joachim Kuhn nach Rastenburg, zu den Ruinen der "Wolfsschanze". Dort hatte Kuhn im November 1943 zusammen mit dem Sprengstoff, der für Axel von dem Bussches mißlungenes Selbstmordattentat auf Adolf Hitler vorgesehen war, eine Art Regieanweisung für den großdeutschen Staatsstreich vergraben, nachdem dafür wieder einmal der "richtige Zeitpunkt" verpaßt worden war. Und wie alle Planungen, Vorbereitungen und Attentatsversuche weist auch Kuhns "Spurenbeseitigung" groteske Züge auf, die Lenins ätzendes Urteil zu bestätigen scheint über deutsche Revolutionäre, die erst eine Bahnsteigkarte lösen, bevor sie den Bahnhof besetzen. Denn Kuhn kam offenbar nicht nur nicht auf den naheliegenden Gedanken, die brisanten Papiere einfach zu verbrennen - er ließ sich, wie Hoffmann rekonstruiert, beim Vergraben auch noch von der Feldpolizei erwischen. Die Sache ging nur glücklich aus, weil deren Schäferhunde nicht in Form waren und ihre "Herrchen" zunächst in die falsche Richtung zogen, bis sie später dann nur den Sprengstoff fanden. Daher konnte Kuhn die Dokumente vor den Augen seiner sowjetischen Bewacher im Winter 1945 wieder zutage fördern.

Ihr Inhalt ist alles in allem eher unspektakulär, obwohl Hoffmann meint, hier ein "Schlüsseldokument" zu publizieren. In erster Linie bestätigt sich jedoch nur die bekannte überragende Rolle Tresckows als "Motor" des militärischen Widerstands. Die Papiere belegen zudem, wie Hoffmann nachdrücklich betont, daß die Verschwörer nicht, wie ihnen bis heute immer wieder vorgehalten wird, den Entschluß zum Staatsstreich faßten, weil die militärische Niederlage drohte. Tresckow, wie Hoffmann aus dem Tagebuch des mitverschworenen Hauptmanns Hermann Kaisers zitiert, sei im Frühjahr 1943 der festen Überzeugung gewesen, an der Ostfront sei die deutsche Seite "so stark wie noch nie". Vom Gedanken an eine Niederlage war Tresckow - ganz in Übereinstimmung mit dem Gros der Befehlshaber im Osten - also selbst nach Stalingrad und kurz vor der Kursker Offensive weit entfernt. Ihn trieben offenkundig moralische Erwägungen, wie sie bald darauf auch aus Stauffenbergs Mund überliefert sind: Man müsse etwas gegen jene "Unmenschlichkeit" tun, die Tresckow zur gleichen Zeit einer Vertrauten gegenüber konkretisierte: "Zehntausende von Juden würden grausam umgebracht".

Den Umsturzplan, der diesem verbrecherischen Treiben ein Ende setzen sollte, arbeitete Tresckow im September 1943 aus. Er sah die Besetzung der ostpreußischen Hauptquartiere Hitlers, Görings und Himmlers vor. Für diesen Schlag sollte sich die nahe Wilna neu aufgestellte 18. Artillerie-Division zur Verfügung halten, die von Gesinnungsfreunden Tresckows geführt wurde. Er selbst wollte sich nach Ostpreußen begeben, um vom Wehrkreis I aus die "Übernahme der Regierungsgewalt durch das Heer" nach der Gefangennahme oder Tötung Hitlers zu organisieren. Für den genauso wichtigen Wehrkreis III (Berlin) galten die auch im Juli 1944 aus der Schublade geholten "Walküre"-Pläne zur Mobilisierung von Truppen im Reichsgebiet.

Ein Vergleich dieses Septemberplans mit dem Ablauf des Staatsstreichsversuchs vom 20. Juli 1944 legt für Hoffmann den Schluß nahe, daß "die Vorbereitungen nie wieder so gründlich waren wie die im Herbst 1943". Nicht zuletzt die verhängnisvollen "Improvisationen und Konfusionen des 15. und 20. Juli 1944 weisen auch darauf hin". Mit der militärischen Besetzung der "Wolfsschanze", der nahe gelegenen Feldquartiere Himmlers und Görings sowie mit der Bedeutung des ostpreußischen Wehrkreises schien man sich im Frühjahr 1944 nicht mehr befaßt zu haben, da angesichts der dramatisch veränderten Lage im Osten keiner der Verschwörer mehr darauf hoffte, auch nur ein Regiment aus der Front "abzweigen" und zur "Wolfsschanze" in Marsch setzen zu können.

Foto: Touristen bei Ruinen der "Wolfsschanze", Rastenburg/Ostpreußen 2003: "So stark wie noch nie"


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