© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/07 08. Juni 2007

Deutschland hört nicht auf zu brennen
Der Berliner Soziologe Peter Furth analysiert und erklärt die bundesdeutsche "Negatividentität" und deren Protagonisten
Thorsten Hinz

Am Ende verschlagen die Aufsätze des Berliner Sozialphilosophen Peter Furth (Jahrgang 1930) einem den Atem. Wie kommt es, daß ein Wissenschaftler, der seine Laufbahn am Frankfurter Institut für Sozialpolitik bei Adorno begonnen hat, zum schärfsten Kritiker des von der Frankfurter Schule geprägten "kritischen Bewußtseins" in der Bundesrepublik geworden ist? Furth ist kein linker Saulus, der sich zum rechten Paulus gewandelt hat, im Gegenteil. Er nimmt die Kapitalismus-Analysen von Marx ernst und zugleich gegen den marxistischen Erlösungsanspruch in Schutz. Für ihn steht mit Marx fest, daß der Mensch "nicht an seinen Zwecken und nicht an den Gegenständen der unmittelbaren Konsumtion" zu Verstand kommt, "sondern an dem, was die Situation von Bedürfnis und Befriedigung zusammenschließt, ihren Wechsel überdauert". Das geschieht im Zusammenhang mit der "Erhaltung und Reproduktion der Arbeitsmittel" und setzt langfristig die Trennung der "Produktiventfaltung von den Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation" voraus. Furth geht es um die Bewahrung der Lebenswelt im weitesten Sinne.

Nicht erst der Marxismus, bereits Marx hat einen destruktiven Keim in seine Theorie eingesenkt. Die menschliche Arbeit nennt er einen "Stoffwechsel mit der Natur", doch läßt er dabei den arbeitenden Menschen der Natur selber als Naturmacht gegenübertreten, damit er "das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit" unterwerfen. Furths Zweifel, daß dieser Schöpfungsanspruch des Menschen mit der "Erhaltung und Reproduktion" der Lebenswelt vereinbar sei, wurden mit der Debatte um die Stationierung neuer Atomraketen zu Beginn der 1980er Jahre akut. Die "Inanspruchnahme radikaler Freiheit bei der Einsegnung absoluter Vernichtungswaffen" nannte er "das nihilistische Echo auf die von der Metaphysik ersehnte Freiheit des Demiurgen gegenüber seiner Schöpfung". Die Selbstermächtigung des Menschen führt diesen nicht aus der Zweckrationalität und Fremdbestimmung heraus, sondern treibt diese in immer tiefere Schichten des Selbst hinein, bis die Selbstauslöschung denk- und machbar wird.

Auch deutsche Geschichtspolitik ist fehlgegangene Arbeit, sie zielt auf die "Zerstörung des kollektiven Gedächtnisses" und der "schützenden Sicherheit selbstverständlicher Gemeinsamkeiten" und ihre demiurgische Neukonstituierung ab. Einem derart fehlkonditionierten Kollektiv fehlt es sowohl an der Kraft zur Entscheidung als auch an Gelassenheit. Der Streit um den Besuch von Bundeskanzler Kohl und US-Präsident Reagan im Mai 1985 auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Bitburg und die "scheinheilige" Versöhnungsgeste, die beide zelebrierten, war eine bundesdeutsche "Erkennungsszene", in der "die Bodenlosigkeit der westdeutschen Politik offenbar" wurde. Die Motive Kohls, der auf den Besuch gedrängt hatte, waren nur graduell bessere als die seiner Kritiker. Als Preis für die deutsche Treue zur Nato (deren Planungen Deutschland als Atomwüste vorsahen) forderte er von den USA die symbolische Schuldexkulpation. Seine Rechnung ging stillschweigend vom "Weitergelten des Stigmas auf der Herkunft" der Deutschen aus, welches "die verbrannte Erde legitimiert, die zur Stationierung der Raketen gehört". Die "antifaschistische Solidarität" der Gegenseite ging noch weiter. Sie sprach unter Hinweis auf die Opfer des Nationalsozialismus den deutschen Gefallenen ihre Würde ab. Beide Seiten modellierten aus den Toten "Staatsmenschen" und ließen sie gegeneinander aufmarschieren, um ihre eigenen politischen Opportunitäten zu legitimieren. Gegen diese Totenschändung stellt Furth das Modell der Antigone, die den toten Bruder begräbt, obwohl es das Staatsgesetz verbietet. Sie handelt unwillkürlich, konkret menschlich.

Der Konflikt zwischen Staats- bzw. Bündnisräson und Antigones lebensweltlicher Trauer erscheint nicht erst seit 1945 unlösbar. Auch Hegel war ihm ausgewichen, indem er Antigone sentimentalisierte und die entsittlichende Rückwirkung des Staates auf die Familie außer Betracht ließ. Die Chancen der Antigone gegen das elaborierte Gedenken des Staates sind gering. Der Trojanische Krieg wird als Festspiel der Götter erinnert, obwohl es ein Völkermord war. Die antifaschistische Zweckrationalität im Trauerritual der BRD ist über die geschichtspolitische Planung Helmut Kohls längst hinweggegangen und hat eine Drehung ins Perverse vollzogen, das Furth gut marxistisch "die Bewirtschaftung der Toten" nennt. Das Restunbehagen daran ist privat und in den Satz gefaßt: "Troja hört nicht auf zu brennen."

Die zweite maßgebliche Grundströmung in der Bundesrepublik, der Liberalismus, verstärkt das Nützlichkeitsdenken. Der Liberalismus will die gesellschaftliche Balance durch permanente Ausdifferenzierung und Entgrenzung sichern. Das ungestillte Bedürfnis nach Ganzheit und Integration beantwortet er durch Massenwohlstand als die Erfüllung des "pursuit of happiness" (Streben nach Glück). Dabei verzehrt er die sozialen Ressourcen und ethischen Potentiale, aus denen er sich speist. Die Sekundärtugenden und Selbstbeschränkungen, die der Erzeugung des Massenwohlstands vorausgehen, kann er nicht aus sich selbst begründen. Sein Defizit kaschiert er mit dem Antiautoritarismus, der die politische Emanzipation in die menschliche überführt und sich gegen die Institutionen der Sozialisation (mithin auch gegen die des kollektiven Gedächtnisses) wendet. Alte Tabubereiche werden entgrenzt und der kapitalistischen Bewirtschaftung zugänglich gemacht.

Die liberale Nivellierung ergänzt sich prächtig mit dem linken Anspruch, den Neuen Menschen zu erschaffen. Das Private, das für den Liberalismus alter Schule eine Quelle war, um die Beschädigungen aus anderen Teilbereichen (Politik, Wirtschaft, Arbeitswelt usw.) zu kompensieren, wird öffentlich gemacht und zugleich Teil der ökonomischen Logik. Diese Tendenz ergänzt sich mit der von der Linken gewünschten Politisierung des Privaten. Was für den Liberalen die "Selbstverwirklichung", ist für den Linken die "gesinnungsethische Unmittelbarkeit" der Politik. Furth erklärt damit ein Phänomen, das Arnold Gehlen exzellent beschrieben, aber nur unzureichend erläutert hat: die Macht- und Priesterstellung des von Moralhypertrophie erfüllten linksliberalen Intellektuellen. Sein Machtmittel ist ein Amalgam aus "Heuchelei und moralischer Weltanschauung".

Für Furth handelt es sich um eine "verweigerte Bürgerlichkeit". Der Bürger moderiert die Gegensätze zwischen dem Citoyen, dem am Gemeinwohl orientierten, bedingungslos moralisch handelnden Staatsbürger, und dem seinen persönlichen Interessen folgenden Bourgeoise. Die Schuldgefühle, die diesem Gegensatzpaar innewohnen - der Citoyen fühlt sich schuldig, weil seine Radikalität die tradierten Kulturnormen zerstört, der Bourgeoise wegen seines Egoismus -, gleicht er aus. Wo die Balance zerbricht und die Schuld zur Gänze auf den jeweils anderen abgewälzt wird, mutiert dieser zum Feind im Bürgerkrieg, und es brechen revolutionäre Zeiten an.

Nachdem die politischen Revolutionen die Entfremdung des Menschen nicht aufgehoben hatten, blieb als letzte Variante die Kulturrevolution. Schon in den 1920er Jahren war von den Theoretikern des Linksradikalismus angeregt worden, "in die Tiefe der psychischen Disposition" vorzudringen, um ein neues revolutionäres Subjekt, den "Neuen Menschen" zu erschaffen. "1968" machte damit ernst. Die gegen die Disziplinzumutungen der bürgerlichen Kultur revoltierenden Instinkte, für die man sich gemeinhin geniert, wurden nun selber als revolutionäres Potential entdeckt, das Schuldgefühl wegen der Normüberschreitung abgeworfen und der eigene Glücksanspruch in den Mittelpunkt gerückt. Mehr noch, für diesen neuen Citoyen war der Citoyen des älteren Typs nun selber ein Angriffsziel: Hatte er nicht 1933 versagt?

Diese 68er Synthese aus linker Schuldgemeinschaft (die die Schuld auf andere projiziert) und liberaler Spaßgesellschaft - eine Denkfigur, die auf Günter Zehm zurückgeht - sieht er in Rudi Dutschke und Rainer Langhans personifiziert. Die Politisierung des Privaten und Privatisierung des Politischen hat die sozialen Energien "in den fiktionalen Stoff öffentlicher Dauerreflexion verwandelt", also zur Entpolitisierung geführt. Die "totale Mobilmachung" mündete statt in die Sammlung der Kräfte in ihre Zerstreuung ein. Erst ab diesem Punkt könnte eine Diskussion über Bürgerlichkeit in Deutschland sinnvoll werden. Ihre Rückkehr läßt sich nicht daran bemessen, daß eine neue Schickeria das Golfspiel oder den Vorzug von Altbauwohnungen entdeckt.

Um innerhalb des allgemeinen Relativismus überhaupt noch Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen zu organisieren, wird das "Sacrum" des Holocaust in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt: als "Heiligtum, das aus allen Sinnkrisen und Sinnruinen des Jahrhunderts" und "über den Nihilismus der Postmoderne" herausragt. Die "Holocaustschuld ist Grundlage einer letzten, der verstiegensten Citoyenromantik". 1998 wollte Furth in diesem "Transzendenzbezug säkularer Demokratie" noch ein hoffnungsvolles "Merkmal angenommener Bürgerlichkeit" erkennen.

Sechs Jahre später diagnostizierte er, daß die neue Zivilreligion in "eine pathologische Konfusion der Zeiterfahrung" hineinführt. Seine Ausführungen dazu sind das Klügste, Mutigste, Visionärste, was bisher darüber zu lesen war. Mit schneidender Schärfe seziert er die "Negatividentität", die den Deutschen allein noch zustünde. Handelt es sich um eine "zu verneinende Identität"? Ist es eine selbstbestimmte oder eine von außen auferlegte? Und worauf bezieht sich die Verneinung, auf die auferlegten Wertungen oder "auf das Selbst der Identität, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung überhaupt"? In diesem Fall wäre Deutschlands Situation hoffnungslos, denn dann handelte es sich um eine "Nichtidentität". Die wäre "so etwas wie eine Wand, eine Projektionsfläche für Zuschreibungswillkür. Das Selbst, wenn denn davon noch gesprochen werden kann, hat dabei seine Identität nur mehr in der stummen Anerkennung der Fremdbestimmung."

Im Aufsatz, der dem Band den Titel gab, heißt es: "Heillos die politisch-moralische Existenz in diesem Land." Furth begnügt sich nicht mit der Feststellung, er liefert dazu die Erklärung. Das Buch gehört auf das Bücherbrett über dem Schreibtisch: stets griffbereit als Zurüstung für den Alltag!

Peter Furth: "Troja hört nicht auf zu brennen". Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2004. Hrsg. von Olaf Weißbach. Mit einer Einleitung von Helmut Fleischer. Landtverlag Berlin 2006, gebunden, 414 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Stelen des "Garten des Exils" im Jüdischen Museum Berlin: Grundlage einer letzten Citoyenromantik


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