© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/07 22. Juni 2007

Im Getümmel der Zeit
Konservatismus: Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing wird achtzig
von Karlheinz Weißmann

In Doderers "Roman No 7" findet sich der Satz von der Welt, die in "ihrer holden Oberfläche ganz ... und mit allen 'Tiefen' (mit denen schon ganz und gar)" enthalten sei. Das spricht für Vertrauen in die Phänomene und gegen die Behauptung, daß es einer Initiation bedarf, um das Wahrnehmbare wahrzunehmen, eine konservative Feststellung also, insofern der Konservative die Welt zwar nicht für vollständig erkennbar hält, aber doch glaubt, daß ausreichende Grundlagen für Wahrnehmung und Verstehen vorhanden sind. Wer nicht wahrnimmt, kann oder will nicht. Gegen die Dummheit gibt es kein Mittel, gegen das, was Doderer "Apperceptions-Verweigerung" nannte, schon, und wenn man ein Leitmotiv für die politische Existenz Caspar von Schrenck-Notzings nennen will, dann das: Kampf gegen die Aufmerksamkeits- gegen die "Apperceptions-Verweigerung".

Er hat angedeutet, daß das nicht nahelag. Ausgerechnet in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde er groß gebracht mit der liberal-pazifistisch-föderalen Gedankenwelt eines Friedrich-Wilhelm Förster. Wenn er sich dann von dem ab- und Försters Antipoden Carl Schmitt zuwandte, muß man auf ein hohes Maß an politischem Eigensinn schließen.

Die "Flakhelfergeneration", der Schrenck-Notzing durch seinen Geburtsjahrgang 1927 angehörte, neigte zur Skepsis oder suchte nach neuen Wegen, die jedenfalls modern zu sein hatten und möglichst weit entfernt von allem, was an spezifisch deutsche Denk- traditionen erinnerte. Aber es gab in den "halkyonischen Tagen" - zwischen Koreakrieg und Mauerbau - einen intellektuellen Untergrund, vor allem im Umfeld Schmitts, wo sich sammelte, was dessen "Verschärfung" anzog, die der Rest schaudernd mied. Zu den Zirkeln der Schmitt-Verehrer gehörte eine Münchener "Tafelrunde", der neben Winfried Martini und Mohammed Rassem auch Armin Mohler und Schrenck-Notzing zuzählten.

Der Einfluß Carl Schmitts auf das Denken Schrenck-Notzings war allerdings begrenzt, was vor allem an der Ausrichtung seines politischen Interesses lag, das sich in den sechziger Jahren abzeichnete. Einen ersten Niederschlag fand es 1962 in dem Aufsatz "Wider die Gefühlspolitik", einem Beitrag zur Rundfrage "Was ist heute eigentlich konservativ?" des Monats.

An dem Beitrag Schrenck-Notzings fiel die Weigerung auf, sich mit dem Thema genauer zu befassen. Statt dessen konzentrierte er seine Ausführung auf ein paar unangenehme Wahrheiten: "Was heute konservativ ist", heißt es etwa, "kann weder aus dem Wort noch aus der Geschichte abgeleitet werden, sondern entscheidet sich im Getümmel des Tages", es gehe nicht um die Pflege antiquarischer Interessen oder um Sentimentalitäten, sondern um "Sachgerechtigkeit", eine nüchterne Beurteilung der Lage. Die erlaube kein anderes Urteil, als daß der "Prozeß der zunehmenden Manipulierbarkeit der politischen Sphäre ... irreversibel" sei. Man könne darüber klagen, aber das führe zu nichts, die Konservativen müßten ihrerseits lernen, das "psycho-technische Schaltbrett" zu bedienen.

In den folgenden zehn Jahren erschienen drei Bücher Schrenck-Notzings - Charakterwäsche (1965), Zukunftsmacher (1968) und Demokratisierung (1972) -, die als Versuche genommen werden können, den Weg dahin zu ebnen. Seine Analyse der amerikanischen "Umerziehung", der Ideologie der "Neuen Linken" und des gesellschaftlichen Schlüsselprojekts der "Achtundsechziger" dienten jedenfalls dem Ziel, klarzumachen, in welchem Maß es sich bei der Öffentlichen Meinung der Bundesrepublik um eine "artifizielle" (William S. Schlamm) handelte, daß man von einer "gemachten, eingesetzten, ernannten, befohlenen und nicht ... gewachsenen, historisch bedingten, erkämpften öffentlichen Meinung" ausgehen müsse. Der "Einsetzungsprozeß" habe seine Wurzel in jener re-education der Nachkriegsjahre, die man nicht mit einem pädagogischen Prozeß verwechseln dürfe, denn es handelte sich "um einen sozialpsychologisch untermauerten Eingriff in unbewußte Seelenbereiche", darauf abzielend, den Kollektivcharakter der Deutschen zu ändern, um die Nation sich selbst zu entfremden und jedenfalls unschädlich zu machen.

Die historische Schuld der Neuen Linken sah er darin, daß sie die Umerziehung fortsetzte; ihr Antiamerikanismus erschien unerheblich verglichen mit ihrem Antifaschismus, der sie zu willigen Vollstreckern des politischen Testaments machte, das die großen Besatzer hinterlassen hatten.

Wenn die Neue Linke dabei kaum auf Widerstand stieß, lag das aus der Sicht Schrenck-Notzings daran, daß sie sich mit Unterstützung der Liberalen eine Begrifflichkeit aneignen konnte, die attraktiv klang und jedenfalls dem Massenhedonismus Vorschub leistete. Das Verlangen nach "Selbstverwirklichung" stand dabei neben dem nach "Demokratisierung" aller Lebensbereiche, und wenige waren in der Lage, den Taschenspielertrick zu durchschauen, die Forderung nach "Volksherrschaft" qua Mehrheitsentscheid und öffentlicher Wahl umzufälschen in die Legitimierung eines Regimes, das das Volk verachtete, aber im Namen des Fortschritts auftrat und damit die Durchsetzung von Auffassungen rechtfertigte, die alles, aber nicht mehrheitsfähig waren.

Schrenck-Notzing glaubte, daß die Schwäche der Opposition vor allem auf eine spezifische Blindheit gegenüber der Realität des Ideologischen zurückzuführen sei. In der Bundesrepublik mischten "sich praktisch gebende Ideologienscheu mit der systematischen Kriminalisierung jeder nichtlinken Ideologie", und das führte zu jener verfahrenen Lage, in der die Konservativen seit dem Ende der sechziger Jahre waren. Die von ihnen mit Wohlwollen aufgenommene Feststellung, daß das Zeitalter der Ideologien beendet sei, habe sie einer Waffe beraubt, die man in den Kulturkämpfen der Gegenwart unbedingt benötigte, denn der Gegensatz von "Ideologie" und "Realität" sei vordergründig, verkenne die Standortgebundenheit jeder Position, auch der konservativen.

Die Forderung nach einer konservativen Ideologie lag auf einer Linie mit dem, was Schrenck-Notzing schon in dem Aufsatz von 1962 verlangt hatte, und es entsprach dem auch, daß er die im konservativen Lager übliche Fixierung auf die kommunistische Bedrohung ablehnte; für ihn war die APO eben nicht der verlängerte Arm "Moskaus", sondern der Wechselbalg der Siegermächte. Seiner Meinung nach mußte man weniger die Bedrohung von außen als den inneren Verfall fürchten. In seinem Buch "Charakterwäsche" zitierte er zustimmend Arnold Gehlen mit der Aussage, in der Bundesrepublik seien "zahllose Personen ... mit allen Mitteln der Meinungsmache öffentlich bemüht, allem, was irgendwie noch steht, das Mark aus den Knochen zu blasen".

Diese Bezugnahme auf Gehlen war kein Zufall, sie spielte für die Argumentation Schrenck-Notzings früh eine wichtige Rolle (sogar in dem Bucherstling "Hundert Jahre Indien", 1961) und erklärt sich wesentlich aus dessen Gegenwartsanalyse, die dem Konzept Schrenck-Notzings eher entsprach als die Schmitts. Das erklärt auch, warum er Gehlen unter die Penaten der 1970 ins Leben gerufenen Zeitschrift Criticón stellte. Die erste Nummer erschien mit einem Autorenporträt Gehlens und einem knappen Einleitungstext Mohlers, der "Moral und Hypermoral" als Programmschrift der neuen Richtung feierte. Mit dem Erscheinen von Criticón ergab sich eine deutliche Verschiebung in der publizistischen Tätigkeit Schrenck-Notzings, der in Zukunft nur noch Zeit fand, zwei kleinere Monographien ("Honoratiorendämmerung", 1973; "Abschied vom Parteienstaat", 1988) zu schreiben, und im übrigen die Herausgabe eines Organs zu bewältigen hatte, das als schmales Rezensionsblatt gedacht war, sich aber allmählich zur anerkannten und beliebten Theoriezeitschrift mit ausführlichen Essays entwickelte.

Man wird die Gründung von Criticón einmal als Beispiel für jene "konservative Aktion" zu werten haben, deren Notwendigkeit Schrenck-Notzing immer beschworen hatte, aber auch als Versuch, wenn schon nicht direkt auf die Öffentliche Meinung einzuwirken, so doch einen Punkt der Scheidung, der "Krisis" - darauf nahm der Titel Criticón Bezug - zu bilden. Criticón hat diese Funktion in der Zeit, in der Schrenck-Notzing die Leitung versah, erfüllt und einer ganzen Generation junger Konservativer zur Information und Orientierung gedient. Nachdem er die Federführung abgegeben hatte, konzentrierte er seinen Einsatz noch stärker auf die Grundsatzarbeit, vor allem durch die Herausgabe des "Lexikons des Konservatismus" (1996), und legte mit der Gründung der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung einen Beweis dafür ab, was es heißt, um den Wert von Institutionen zu wissen.

Die große ideologische Verschiebung hat sich trotz dieser Anstrengungen nicht aufhalten lassen, aber das stand auch kaum zu erwarten. Mit erkennbarer Bitterkeit wies Schrenck-Notzing Mitte der neunziger Jahre darauf hin, daß "Öffentlichkeit" und "Propaganda" mittlerweile identisch seien. Die Öffentliche Meinung bilde längst kein Korrektiv mehr, sie diene nur noch der Affirmation herrschender Verhältnisse. Als Ausdruck der Resignation war diese Feststellung aber nicht zu verstehen, eher als um so nachdrückliche Aufforderung, den "Ariadnefaden zurück aus dem Labyrinth" zu suchen.

Das Vermeiden billigen Trosts gehört sicher zu den wesentlichen Kennzeichen von Schrenck-Notzings Denkungsart. Im Nachruf auf Gehlen hat er dessen Selbstcharakterisierung zitiert, der äußerte: "Als Reaktionär gilt derjenige, der unwiderlegbar ist, weil er auf das Stimmrecht der Sachen verweist." Wahrscheinlich wird Caspar von Schrenck-Notzing, der in diesen Tagen seinen achtzigsten Geburtstag begeht, keine Einwände erheben, wenn man ihn derselben "reaktionären" Schule zurechnet.

Foto: Caspar von Schrenck-Notzing: Ein Maß an politischem Eigensinn


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