© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Das Raumschiff ist gelandet
Klare Worte aus Polen, deutsches Gestammel: Europa darf sich nicht im Streit verzetteln
Thorsten Hinz

Die Sachlage im EU-Streit änderte sich zum Schluß des Gipfeltreffens der europäischen Staats- und Regierungschefs halbstündlich, die polnischen Argumente wurden immer bizarrer. Es lohnt sich nicht, sie bis in die Einzelheiten nachzuverfolgen. Wichtiger ist es, für den Konflikt einen reellen Maßstab zu finden. Zum Beispiel durch die Lektüre von Carl Schmitts "Land und Meer": Der Leser wird eingeladen, dem "Pionier der Raumrevolution in das offene Denken einer planetarischen Weltordnung zu folgen" (Nicolaus Sombart).

Vor Jahrhunderten wurden die europäischen Proportionen der Politik umgestürzt, weil "Landtreter" zu "Seeschäumern" wurden, insbesondere die Briten. Der Begriff "kontinental" bekam dadurch die Nebenbedeutung von rückständig. Als Schmitt sein Buch 1944 veröffentlichte, war durch die technische Entwicklung bereits die Luft als dritter Elementarbereich hinzugekommen und rang "ein neuer Sinn um seine Ordnung". Heute gibt es den Weltraum als viertes Element. Aus dieser Perspektive verringert die Bedeutung unseres binnenkontinentalen Streits sich zusätzlich.

Es den Gebrüdern Kaczyński mit gleicher Münze heimzuzahlen - wie in den Internetforen deutscher Zeitungen reichlich geschehen -, käme also einer Selbstbeschädigung gleich. Denn es spricht, um noch einmal Sombart zu bemühen, viel dafür, daß Schmitts Großraumkonzept die einzige tragfähige Basis einer künftigen polyzentristischen Welt-Raum-Ordnung sein könne. Die Mächte der Zukunft heißen nicht Großbritannien, Frankreich, Deutschland und auch nicht Polen. Die traurige Figur, die Prinz Charles 1997 bei der Übergabe Hongkongs an die Chinesen machte, war auch ein Symbol für den rückläufigen Einfluß des europäischen Kontinents.

Deutschland, im Augenblick noch die drittgrößte Industriemacht, kann nichts dagegen tun, daß die viertgrößte, China, bei ihr ungeniert Produktpiraterie betreibt und wohl bald einen eigenen Transrapid auf die Reise schicken wird. Nimmt man nur die demographische Entwicklung hinzu - die in Polen nicht besser ist als in Deutschland - und das Schrumpfen der Binnenmärkte und des kreativen Potentials, das daraus langfristig folgt, dann wird klar, daß die einzige Perspektive unserer Länder bei einem Europa liegt, das sich nicht im Streit verzettelt. Der aktuelle mit Polen aber führt zurück in das 19. Jahrhundert, in das Zeitalter des Nationalismus, dessen Konflikte sich im 20. Jahrhundert ideologisch aufluden und zur Explosion kamen.

Andererseits: Die brutale Verhandlungsführung der polnischen Führung hat verdeutlicht, daß Europa sich nicht auf der Grundlage von postnationaler Lyrik und Versöhnungskitsch konstituiert, sondern durch Nationalstaaten gebaut wird, die jeweils anders geartet sind. Das Raumschiff ist wieder auf der Erde gelandet.

Für diese Klarstellung darf man dankbar sein. Ohne die Zurschaustellung ihre antideutschen Reflexe hätten die Kaczyńskis sogar eine fruchtbare Diskussion anstoßen können. Denn die Furcht, von einem unkontrollierbaren, bürokratischen EU-Moloch fremdbestimmt zu werden, ist auch in Deutschland und anderswo verbreitet. So aber haben sie fast Undenkbares ausgelöst. Als Kanzler Schröder mit Präsident Putin die Gaspipeline durch die Ostsee vereinbarte, gab es nicht wenige hier, die das als einen antipolnischen Affront betrachteten, der überdies die europäische Idee beschädigte. Heute gibt es niemanden mehr, der dem Altkanzler nicht dafür dankbar wäre, daß die Energiezufuhr nach Deutschland vom polnischen Nachbarn unabhängig bleibt. Zweifel greifen um sich, ob Polen willens und fähig ist, sich in eine europäische Perspektive einzufügen, ob es nicht in Wahrheit die EU als machtpolitisches Instrument betrachtet, um den ungeliebten Nachbarn zu domestizieren und auszubeuten. Damit steht auch die Frage im Raum, ob die EU überhaupt noch geeignet ist, einer europäischen Idee zu dienen.

Das Schweigen bzw. Stammeln der sogenannten Polen-Experten, der Schwall-Dürens, Schwans, Meckels, Thierses, spricht Bände. Immer wieder hatten sie versichert, es müsse nur der deutsche Geschichtsrevisionismus bekämpft, das Zentrum gegen Vertreibungen verhindert und die Preußische Treuhand geächtet werden, dann seien die Hauptquellen deutsch-polnischer Irritationen verschlossen.

Die doppelt falsche These, der von Deutschland allein und mutwillig ausgelöste Krieg habe die exklusive Ursache für die Vertreibung der Deutschen gesetzt, ist zur staatlich verordneten Lehrmeinung und zum Grundelement des historischen Selbstverständnisses geworden. Obwohl man den polnischen Wünschen also bis zur Selbstaufgabe entgegengekommen ist, wurden zuletzt noch die Toten Seelen aus einem vergangenen Krieg hochgerechnet und als politischer Faktor ins Spiel gebracht.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) äußerte sich im Deutschlandfunk "entsetzt und sehr traurig", mehrfach "betroffen" und nochmals "traurig": Ein Politiker am Ende seines Lateins, dem dämmert, daß er von der Gegenseite instrumentalisiert worden ist. Seine moralischen Bekenntnisse, die politisches Vertrauen schaffen sollten, haben in ihrer sachlichen Unbedarftheit lediglich den Eindruck der Erpreßbarkeit gefördert.

Das war vorauszusehen. Denn der europa- und deutschlandpolitische Berater des polnischen Präsidenten, der 41jährige Marek A. Cichocki, ist ein hochintelligenter Carl-Schmitt-Experte, seine Frau ist im Präsidialamt für die Geschichtspolitik zuständig. Ernster als "Land und Meer" nimmt Cichocki offenbar den "Begriff des Politischen". Er weiß, daß die momentane Geschichtspolitik Deutschlands seiner moralischen Selbstentwaffnung gleichkommt. Sie lädt geradezu ein zur Forderung an Berlin, die Europa- als Wiedergutmachungspolitik zu betreiben. Mit Argusaugen verfolgt er die Diskussion um deutsche Opfer, warnt vor einem Paradigmenwechsel in der Vergangenheitspolitik und will ihm via Brüssel vorbeugen.

Das ist den Polen überhaupt nicht vorzuwerfen. Problematisch wird es nur, wenn deutsche Experten aus moralischen Erwägungen ihre Bereitschaft signalisieren, die strikt nationale Perspektive der anderen Seite (dabei geht es nicht nur um Polen) als nichthinterfragbaren Wert zu akzeptieren und zu verinnerlichen. Das ist auch für die europäische Perspektive fatal. Selbst wenn Deutschland die geschichtspolitische Fremdbestimmung hinnimmt, kann es damit die europäische Frage "nicht entpolitisieren und nicht in einen Zustand reiner Moralität" versetzen (Carl Schmitt). Es weckt kein europäisches Bewußtsein, sondern nationale Egoismen. Auch ein verzerrtes deutsches Selbstbild verstellt die europäische Perspektive. Die europäische Rakete wird so jedenfalls nicht abheben.

Foto: Polens Präsident Lech Kaczynski auf einer Pressekonferenz zum Ende des EU-Gipfels: Die Mächte der Zukunft liegen anderswo


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen