© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/07 29. Juni 2007

Die Kladde des Ahnen
Verschollene Mitschrift einer Vorlesung Kants aufgefunden
Heinrich Lange

In ihrem Ostpreußen-Buch "Namen die keiner mehr nennt" (1962) erwähnt Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) im Familienarchiv des Schlosses Friedrichstein, das sie 1933/34 für ihre Dissertation über die Entstehung des Familienbesitzes durchforstete, "Kolleghefte meiner Vorfahren, darunter eines: 'Vorlesung des Herrn Professor Em. Kant über die phys. Geographie'". Ihre Erinnerungen schließt sie mit den Worten: "Ende Januar 1945 ging Friedrichstein mit allen Sammlungen, Bildern, Teppichen und dem Archiv in Flammen auf."

Immanuel Kant hat, wie der Marburger Philosophieprofessor Werner Stark in einem Vortrag über "Physische Geographie in Königsberg des 18. Jahrhunderts" auf der IX. Internationalen Kant-Tagung 2004 in Kaliningrad ausführte, über Physische Geographie zwischen 1755 und 1796, also vom Beginn seiner Privatdozentur bis zum Ende seiner Vorlesungstätigkeit, vierzig Mal gelesen.

Es existieren noch achtzehn Handschriften von Studenten und anonymen Schreibern. Sie sind in elektronischer Form in der Marburger Arbeitsstelle der Göttinger Akademie der Wissenschaften bis Ende 2001 und danach in der Potsdamer Arbeitsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften verfügbar gemacht worden.

In Kants Vorlesungen über Physische Geographie lassen sich, so Stark, die "Wandlungen seines Natur- und Weltverständnisses" nachvollziehen: "Wer sich für Kants Welt interessiert und diese näher kennenlernen möchte, wird die in der reifen Philosophie der 1780er und 1790er Jahre enthaltene Weltauffassung des Philosophen nur dann in historisch korrekter Perspektive wahrnehmen können, wenn der Anfang dieser Entwicklung (an dem die Physische Geographie steht) hinreichend aufgeklärt ist."

Wenn Stark als Bearbeiter der "Vorlesungen über Physische Geographie" in Band 26 der Akademie-Ausgabe, dessen Edition zu den Vorhaben der seit fünf Jahren für die Gesamtausgabe der Schriften Kants zuständigen Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bis 2010 gehört, mitteilt, daß zehn weitere Königsberger Handschriften "ohne Spur verschollen sind", so muß darauf hingewiesen werden, daß nach jüngsten Forschungen die Vorlesungsmitschrift über Physische Geographie eines Grafen Dönhoff in dem wider Erwarten zu großen Teilen erhaltenen Dönhoffschen Familienarchiv noch vorhanden ist.

Wie die Stempel des Staatsarchivs Königsberg auf den meisten Archivalien belegen, müssen die geretteten Teile des Friedrichsteiner Archivs Mitte der dreißiger Jahre, vermutlich erst zu Beginn des Krieges 1939, ins Staatsarchiv Königsberg überführt und dann mit dessen Beständen 1944 in den Westen ausgelagert worden sein. Bis 1975 befanden sie sich im Staatlichen Archivlager Göttingen (ehemaliges Staatsarchiv Königsberg, Archivbestand Preußischer Kulturbesitz). Dort fertigte man ein Findbuch und eine Mikroverfilmung an, die heute im Geheimen Staatsarchiv Berlin zu benutzen sind. Die Kolleghefte mit Kants Vorlesung über Physische Geographie wurden aber nicht verfilmt.

Das Originalarchiv wurde, wie im Findbuch vermerkt, "1975 von Frau Dr. Marion Grafin Dönhoff zurückgezogen und findet sich seitdem im Archiv der Grafen Hatzfeld(-Wildenburg-Dönhoff) auf Schloß Schönstein, (...) Wissen a.d. Sieg". Unverständlich bleibt deshalb, daß die Gräfin noch 1981 Rudolf Malter (1937-1994), Professor für Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und damaliges Vorstandsmitglied der Kant-Gesellschaft Bonn, auf seine Anfrage hin den "Verlust" der Kolleghefte des Grafen Dönhoff "bestätigt" hat.

So hat Malter die der Kant-Forschung vorenthaltene Handschrift in seiner akribischen Dokumentation "Kant und Königsberg seit 1945" (1983) im "Überblick über die in Königsberg und im übrigen Ostpreußen ehemals vorhandenen Kant betreffenden Manuskripte" fälschlich als "vernichtet" verzeichnet. Noch aktuell aber wird im Internet von der Kant-Forschung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Dönhoffsche Vorlesungsmitschrift als "verschollen" angegeben.

Der Verfasser informierte daher den als Mitarbeiter der Akademie die "Vorlesungen über Physische Geographie" bearbeitenden Marburger Philosophen über die geretteten Kolleghefte des Grafen Dönhoff und die Familie Dönhoff über dessen Forschungsprojekt. So konnte Stark Anfang Juni - gleichsam in letzter Stunde, da seine Arbeit kurz vor dem Abschluß steht - eine erste Begutachtung der Handschrift im Dönhoffschen Familienarchiv auf Schloß Schönstein vornehmen. Der Besitzer des Archivs ist der Sohn des letzten Herrn auf Friedrichstein und das heutige Familienoberhaupt, Stanislaus Graf von Dönhoff - ein Neffe von Marion Gräfin Dönhoff.

Stark schreibt in einer ersten Expertise unter anderem: "Das 196 Blatt umfassende Manuskript bietet einen in sich geschlossenen, nicht durch ältere Überlieferungen kontaminierten Text, der auf einen Semestervortrag zu Beginn der 1780er Jahre zurückgeht (...) Den Umfang schätze ich auf ca. 80.000 Worte. Das Ms schließt eine bisher bestehende, empfindliche Lücke in der Überlieferung der Vorlesung; der Text sollte transkribiert und in Band 26 von 'Kants gesammelte Schriften' ediert werden."

Der von Stark bisher als Nachschreiber der Vorlesung vermutete Paul Graf von Dönhoff (1773-1838) war noch zu jung, aber sein 1763 geborener Vetter August Friedrich Philipp Graf von Dönhoff, der Besitzer von Friedrichstein von 1803 bis 1838, kann als etwa Zwanzigjähriger der gesuchte Kant-Schüler sein.


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